Alle Formen der Ablehnung, Feindschaft oder Diskriminierung von Juden.

1879
§. 1. Der unter dem Namen der „Antisemiten-Liga“ gegründete Verein von nichtjüdischen Männern hat den Zweck, die nichtjüdischen Deutschen aller Konfessionen, aller Parteien, aller Lebensstellungen zu einem gemeinsamen, inigen Verbande zu bringen, der, mit Hintansetzung aller Sonderinteressen, aller politischen Differenzen, mit aller Energie, mit allem Ernst und Fleiß dem einen Ziele zustrebt, unser deutsches Vaterland vor der vollständigen Verjudung zu retten und den Nachkommen der Urbewohner den Aufenthalt in demselben erträglich zu machen. §. 2. Er erstrebt dieses Ziel auf streng gesetzlichem Wege dadurch, daß er sich der weiteren Verdrängung des Germanenthums durch das Judenthum mit allen erlaubten Mitteln widersetzt, daß er sich die Zurückdrängung der Semiten in die ihrer numerischen Stärke entsprechenden Stellung zur Aufgabe macht, daß er das Germanenthum von dem auf ihm lastenden Druck des jüdischen Einflusses befreit und den Kindern der Germanen ihr volles Recht zu Aemtern und Würden im deutschen Vaterlande sichert. §. 3. Zur Erreichung dieses Zieles bedient er sich der folgenden Mittel: a) Unterstützung seiner Mitglieder, sowie anderer, gleichem Ziele zustrebenden Vereine und Personen durch Geldmittel, durch Vorträge, Mittheilungen, Wanderlehrer, Vereins-Bibliotheken, durch die Presse etc. und durch Begünstigung nichtjüdischer Konkurrenten auf allen Gebieten und in allen Lebensstellungen. b) Oeffentliche und private Anregungen zur Beseitigung des jüdischen Uebergewichts in der kommunalen und Staatsverwaltung, in der Gesetzgebung und in der Gesellschaft, durch Belehrung, durch Unterstützung strebsamer junger Kräfte, durch Erziehung und Stipendien, durch Befreiung unglücklicher Opfer aus Wucherhänden etc. c) Bekämpfung der jüdischen Presse durch Unterstützung und Gründung nichtjüdischer Journale, und endlich d) Bildung exklusiver Cirkel, Klubhäuser und dergl., zu welchen Juden der Zutritt nicht gestattet ist.
Statuten des Vereins „Antisemiten-Liga“, Berlin 1879, S. 1-3.

1879
Gestern war Vetter Karl in der Antisemiten-Liga. Sie haben ihn aber, weil er schwarzes Haar hat, sofort ergriffen, ihm den Hut angetrieben, sämmtliche Gläser ihm an den Kopf und ihn selber unter lautem „Hepp! Hepp!“ mit Pianinebegleitung hinausgeworfen. Die kurze Zeit seines Aufenthalts in dem angenehmen Local hat er übrigens dazu benutzt, eine sehr interessante Entdeckung zu machen, diese nämlich, daß die Mitglieder der Antisemiten-Liga fast ausschließlich blondhaarige Juden sind ‒ bekanntlich die schlimmste Sorte. Wir haben uns das übrigens gleich gedacht!
Kladderadatsch 32 (Nr. 46 vom 5. Okt. 1879), S. 182.

1880
Es ist dies echt berechnend semitisch. Lea, mußte ,,berühmt“ werden, ehe noch die erste Feder voll Dinte ausgeschrieben war. Mundus vult decipi. Ohne diese Reklamenindustrie hätte das Stück – gelangweilt, denn geistreiche Pointen blitzen nirgends daraus hervor. Lindau versteht die „Mache“. […] diese anticipirte Reklame, die wie die Posaunen des jüngsten Gerichts in alle Welt hinausblasen, ‒ das. heißt dem selbstständigen Urtheil des Publifunis gradezu Fußtritte versetzen und diese edle Dreistigkeit besitzt Lindau und seine literarische „Mischpoche“ in vollem Grade. Dadurch provocirte er eine Tendenz: opposition, welche ‒ einfältig genug ‒ das Stück auszupfeifen versuchte, ohne es zu kennen. Auf Wort! als unzweifelhafter Antisemit würde ich im Interesse des Antisemitismus, dem antisemitischen Flötenspiel meine Zustimmung nicht gegeben haben. Das war es ja. eben, was die Reklamesucht wünschte!! Aufgebauscht, künstlich aufgebauscht durch die Reklamenindustrie bis zu einem semitischen Tendenzstüđ (!) erschien die Judenmamsell.
Wilhelm Marr: Paul Lindau, oder: Die Wunder der Reklame [Rezension], in: Die deutsche Wacht. Monatsschrift für nationale Entwickelung 1 (1880), S. 285-288, hier S. 287.

1880
The New Anti-Jewish Crusades […] Mr. Lucien Wolf said […] I dispose of the theories upon which the new Anti-Semitism is founded. It may probably be said that such […] arguments are not worth refutation, but flimsy as these arguments are, they are not without results in Germany, for already, […] violent attacks have been made upon the Jews by the populace.
The Jewish Chronicle 23 Jan. 1880, S. 7.

1881
Eine Anzahl angesehener Bürger Berlins vereinigt sich am 7. November [1880] zu einem Protest gegen die Antisemitismusbewegung. Die Erklärung lautet: […] In unerwarteter und tief beschämender Weise wird jetzt an verschiedenen Orten, zumal den größten Städten des Reichs, der Racenhaß und der Fanatismus des Mittelalters wieder ins Leben gerufen und ge-gen unsere jüdischen Mitbürger gerichtet. Vergessen wird, wie viele derselben durch Fleiß und Begabung in Gewerbe und Handel, in Kunst und Wissenschaften dem Vaterlande Nutzen und Ehre gebracht haben. Gebrochen wird die Vorschrift des Gesetzes wie die Vorschrift der Ehre, daß alle Deutschen in Rechten und Pflichten gleich sind. Die Durchführung dieser Gleichheit steht nicht allein bei den Tribunalen, sondern bei dem Gewissen jedes einzelnen Bürgers. Wie eine ansteckende Seuche droht die Wiederbelebung eines alten Wahnes die Verhältnisse zu vergiften, die in Staat und Gemeinde, in Gesellschaft und Familie Christen und Juden auf dem Boden der Toleranz verbunden haben. […] Verteidigt in öffentlicher Erklärung und ruhiger Belehrung den Boden unseres gemeinsamen Lebens: Achtung jedes Bekenntnisses, gleiche Rechte, gleiche Sonne im Wettkampf, gleiche Anerkennung tüchtigen Strebens für Christen und Juden. Berlin, den 12. November 1880.
Historisch-politisches Jahrbuch 1 (Teil 2), Berlin 1881, S. 302.

1894
die erste [Skizze aus C. Bergs Der Herr Hofprediger hat gesagt … und Anders, Berlin 1892] […] [wendet] sich gegen die häßlichste Erscheinung unserer Zeit, den Antisemitismus
K.B.: Litterarische Notizen, in: Deutsche Dichtung, Bd. 15, Berlin 1894, S. 179-180, hier S. 180.

1935
Das Propagandaministerium bittet, in der Judenfrage das Wort antisemitisch oder Antisemitismus zu vermeiden, weil die deutsche Politik sich nur gegen die Juden, nicht aber gegen die Semiten schlechthin richtet. Es soll stattdessen das Wort antijüdisch gebraucht werden
Erlaß des nationalsozialistischen Propagandaministeriums von 1935, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 151.

2008
Working Definition
[…:] Anti-Semitism is a certain perception of Jews, which may be expressed as hatred towards Jews. Rhetorical and physical manifestations of anti-Semitism are directed towards Jewish or non-Jewish individuals and/or their property, towards Jewish community institutions and religious facilities. In addition, such manifestations could also target the State of Israel, conceived as a Jewish collectivity. Anti-Semitism frequently charges Jews with conspiring to harm humanity, and it is often used to blame Jews for “why things go wrong”. It is expressed in speech, writing, visual forms and action, and employs sinister stereotypes and negative character traits.
Office for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR) und Yad Vashem: Adressing Antisemitism: Why and How?
A Guide for Educators, Berlin 2008. S. 29.

2010
Antisemitismus
umfasst alle Formen und Stufen der Ablehnung gegenüber Juden, wie sie manifest durch Diskriminierung und Gewalt, latent durch Ressentiments, als Haltung der Abneigung in Erscheinung treten. Antisemitismus tritt ohne räumliche und zeitliche Begrenzung als Vorurteil von der Antike bis zur Gegenwart auf, er äußerte sich im Mittelalter und in der Neuzeit durch kulturelle, soziale und ökonomische Ausgrenzung der jüdischen Minderheit, durch Massaker und Pogrome und erreichte mit neuer Begründung als Rassendoktrin im 19. Jahrhundert den Höhepunkt im Genozid an sechs Millionen Juden unter NS-Herrschaft. In der Gegenwart Deutschlands hat Antisemitismus den Charakter der politischen Ideologie weitgehend verloren, er zeigt sich als verbreitetes individuelles Vorurteil.
Wolfgang Benz: Erscheinungsformen alltäglicher Judenfeindschaft, in: Monika Schwarz-Friesel, Evyatar Friesel und Jehuda Reinharz (Hg.): Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte, Berlin 2010, S. 15-26, hier S. 21f.

2020
Mit dem Beginn des Antisemitismus in der vorchristlichen Antike lehne ich ausdrücklich die These ab, dass es das Christentum mit seinem Vorwurf des Messias- und Gottesmordes war, das den Antisemitismus in die Welt gebracht hat. Ich halte diese These für eine Verkürzung des historischen Sachverhalts, die weder dem Christentum noch dem Antisemitismus gerecht wird. Ebenso wenig schließe ich mich den Forschern an, die den «eigentlichen» Antisemitismus erst im Mittelalter mit der Dämonisierung der Juden und den Anklagen der Blutschuld, der Hostienschändung, des Ritualmords und der Brunnenvergiftung beginnen lassen wollen. Noch viel weniger bin ich der Auffassung, dass es erst die rassistische Variante der Neuzeit war, die es erlaubt, von Antisemitismus zu sprechen. Antisemitismus ist dies alles – und vieles mehr. Deshalb sind auch alle Versuche von vorneherein zum Scheitern verurteilt, das Phänomen des Antisemitismus in die Zwangsjacke einer allgemeingültigen Definition zu zwingen […]. Antisemitismus ist ein variables, vielschichtiges und offenes System, das sich im Laufe seiner Geschichte ständig mit neuen Facetten anreichert und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen immer wieder neu erfindet. «Bewährte» ältere Elemente bleiben dabei als Konstante erhalten und werden durch neu hinzukommende Elemente nicht etwa relativiert, sondern im Gegenteil intensiviert. Das ideologische System des Antisemitismus entwickelt sich dadurch zu einer potenten Kraftmaschine, deren Effizienz und Gefährlichkeit im Laufe der Zeit selten ab- und meistens zunimmt.
Peter Schäfer: Kurze Geschichte des Antisemitismus, München 2020, S. 10f.

 

Literatur

Armin Pfahl-Traughber: Antisemitismus in der deutschen Geschichte, Bonn 2002.

Karsten Krieger (Hg.): Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879-1881. Kommentierte Quellenedition, München 2003.

Klaus Holz: Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft. Hamburg 2005.

Andreas Zick und Beate Küpper: Antisemitismus in Deutschland und Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 31 (2007), S. 12-19.

Horst Helas et al. (Hg.): Neues vom Antisemitismus: Zustände in Deutschland, Berlin 2008.

Lars Rensmann und Julius H. Schoeps (Hg.): Feindbild Judentum. Antisemitismus in Europa, Berlin 2008.

Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Antisemitismus in Europa. Vorurteile in Geschichte und Gegenwart, Bonn 5/2008.

Monika Schwarz-Friesel, Evyatar Friesel und Jehuda Reinharz (Hg.): Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte, Berlin 2010.

Wolfgang Benz: Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen, Berlin 2020.

Peter Schäfer: Kurze Geschichte des Antisemitismus, München 2020.