1908
Ein heimbedürftiger Krüppel ist ein (infolge angeborener oder erworbener Nerven- oder Knochen- und Gelenkerkrankung) in dem Gebrauch seines Rumpfes oder seiner Gliedmaßen behinderter Kranker, bei welchem die Wechselwirkung zwischen dem Grad seines Gebrechens (einschließlich sonstiger Krankheiten und Fehler) und der Lebenshaltung seiner Umgebung eine so ungünstige ist, dass die ihm verbliebenen körperlichen und geistigen Kräfte zur höchstmöglichen wirtschaftlichen Selbständigkeit nur in einer Anstalt entwickelt werden können, welche über die eigens zu diesem Zweck notwendige Vielheit ärztlicher und pädagogischer Einwirkungen gleichzeitig verfügt.
Konrad Biesalski: Die Grundzüge moderner Krüppelfürsorge (Festrede, gehalten bei der am 21. Juni d. J. vollzogenen Einweihung der Berlin-Brandenburgischen Krüppel-Heil- und Erziehungsanstalt), in: Berliner klinische Wochenschrift 45 (17. Aug. 1908), S. 1535-1538, hier S. 1536.

1921
Es handelt sich darum, eine Umwelt für die Krüppel zu schaffen, an der sich ihre Kraft zum späteren Daseinskampf festigen und durchschmeidigen kann. Diese Umwelt muß möglichst zu einer Kulturwelt durchgebildet werden, damit sich die Krüppel später seelisch unbefangen als gesittete Menschen behaupten können. Nur in den Krüppelheimen und Ambulanz-Krüppelschulen können die gebrechlichen Kinder ärztlich genügend vor Überanspannungen und falschen Einstellungen ihrer Kräfte geschützt werden.[…]
[Es] sei auch auf den Bund zur Förderung der Selbsthilfe der körperlich Behinderten (Otto-Perl-Bund) aufmerksam gemacht [gegründet am 10. März 1919 in Berlin], der ein gesundes Verhältnis aller Stände arbeitsgemeinschaftlich anbahnt, der die bislang bestehende Kluft zwischen den sogenannten gebildeten und wirtschaftlich unabhängigen, fürsorgefreien Krüppeln und den fürsorgebedürftigen Krüppeln zu überbrücken versucht.
Hans Würtz: Rückblick und Ausblick, in: Zeitschrift für Krüppelfürsorge 14 (1921), S. 1-7, hier S. 5f.

1926
§ 1. Hilfsschulen für geistig behinderte Kinder sind selbständige Schulen und bilden mit den Sondereinrichtungen für blinde, taubstumme, krüppelhafte und sittlich gefährdete Kinder die Gruppe der öffentlichen heilpädagogischen Erziehungseinrichtungen.
Entwurf eines Hilfsschulgesetzes (Unterverband Bayern), in: Die Hilfsschule. Organ des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands 19 (1926), S. 181-182, hier S. 181.

1928
Das Wort ‚Krüppel‘ stößt bei vielen auf Widerstand. Einen Ersatz dafür zu finden, ist trotz zahlreicher Bemühungen nicht gelungen, weil keine andere Bezeichnung, wie etwa ‚beschädigt‘, ‚bresthaft‘, ‚hilfsbedürftig‘, genau das umschreibt, was ‚Krüppel‘ besagt. Im übrigen kann das Wort, nachdem es vom preußischen Gesetz ’66 angewandt wird, nicht mehr ausgemerzt werden. Wenn die Laienwelt sich daran gewöhnt, unter dieser Bezeichnung nicht einen unrettbar Hilflosen zu verstehen, sondern einen in der Bewegung seines Rumpfes und seiner Glieder behinderten Kranken, der durch die Krüppelfürsorge und durch eigenen Willen seine körperliche Behinderung so weit zu überwinden vermag, daß er einem Gesunden gleichwertig zu erachten ist, so wird aus dem herabsetzenden Begriff ein Ehrenname.
Konrad Biesalski: Grundriss für Krüppelfürsorge, im Auftrag der Vereinigung für Krüppelfürsorge gemeinverständlich dargestellt, Leipzig 1928, S. 11.

1928
[Der Bericht] [d]er heilpädagogischen Woche in Berlin […] enthält […] alle dort gehaltenen Vorträge, die sich auf alle Gebiete der Ausbildung körperlich und geistig behinderter Kinder erstrecken
Stephani: [Rezension: Arno Fuchs: Bericht über die heilpädagogische Woche, 1927], in: Zeitschrift für Schulgesundheitspflege und soziale Hygiene 41 (1928), S. 367.

1932
Jede Körperbehinderung kann den Keim zu kraftvollem Selbstbehaupten durch gesteigerte Betätigung auf einer anderen Seite bilden.
Gertrud Fundinger: Geleitwort, in: Stiefkinder des Schicksals, Helfer der Menschen. Lebensbilder mutvoller Gegenwarts-Menschen, die trotz schwerer Körperfehler ihrer Zeit erfolgreich dienen, München 1932, S. 7.

1933
Es sieht nun so aus, als ob sie [die Lehrerin] mir ihrem geschickten Unterrichten geistig behinderter Kinder das alte Unrecht am Bruder wieder gutmachen wollte.
Steff Bornstein: Ein Beitrag zur Psychoanalyse des Pädagogen, in: Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik 7 (1933), S. 314-321, hier S. 319.

1935
Im ganzen ist verständlicherweise die Unterbringung körperlich und geistig behinderter Schützlinge eine sehr schwere, und wie manche Landesstelle berichtet, unlösbare Aufgabe geblieben.
Hans Wollasch: Die gegenwärtige Lage der Familienunterbringung in der Fürsorgeerziehung, in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt 27 (1935), S. 187-198, hier S. 192.

1937
[Es] steht doch der Auslegung des § 1, Absatz 2 Reichsstraßenverkehrsordnung dahin nichts entgegen. daß auch ein nur zeitweilig körperlich oder geistig Behinderter am Verkehr nur teilnehmen darf, wenn in geeigneter Weise Vorsorge gegen die Gefährdung anderer getroffen ist.
Kurt Hoffmann: Alkoholnachweis bei Verkehrsunfällen, in: Neue deutsche Klinik. Handwörterbuch der praktischen Medizin mit besonderer Berücksichtigung der inneren Medizin, der Kinderheilkunde und ihrer Grenzgebiete, Bd. 14 (4. Erg.bd.), Berlin 1937, S. 426-471, hier S. 467

1950
Die Behinderungen der Bewußtseinstätigkeit, die man als Schwachsinn bezeichnet, sind auf Unfähigkeit zurückzuführen, in der Vielgestaltigkeit und Mannigfaltigkeit aufzudecken, was für das Einzelne in den Zusammenhängen entscheidend ist und es dem Bewusstsein ermöglicht, die Sachlage zu übersehen und zu entwirren.
W. Reyer: Über Grundfragen und Grundsätze der Heilpädagogik, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 1950, H. 4, S. 1-11, hier S. 5.

1954
Ich halte den Begriff Körperbehinderter psychologisch und rechtsbegrifflich für besser. Bis zum Jahre 1914 hat man, wenn ich mich nicht sehr irre, auch den Kriegsbeschädigten als Kriegskrüppel bezeichnet. Die Kriegsbeschädigten und auch die Unfallbeschädigten haben sich mit Recht gegen die Begriffsbezeichnung gewehrt und heute mockiert sich kein Mensch mehr darüber, daß sie mit dem Begriff Kriegsbeschädigte bzw. Unfallbeschädigte belegt werden. Wir Körperbehinderten wollen aber ebenfalls keine Krüppel mehr sein, sondern wir sind Körperbehinderte. Es ist mir daher unverständlich, daß es auch heute noch einen Personenkreis gibt, der an der alten Bezeichnung Krüppel festhalten möchte, obwohl ihm hinreichend bekannt ist, daß er damit den einhelligen Widerstand der Körperbehinderten herausfordert. Das Wort Krüppel ‒ darüber kann nichts hinwegtäuschen ‒ ist im Laufe der Zeit zu einer Diffamierung für die Körperbehinderten geworden. […] Es ist eine altbekannte Tatsache, daß die Volksmeinung geneigt ist, auch jeden, der geistig minderwertig, geistesschwach oder geisteskrank ist, als Krüppel zu bezeichnen.
Eugen Glombig: Lücken in der gesetzlichen Fürsorge für Körperbehinderte, in: Jahrbuch der Fürsorge für Körperbehinderte 1954, S. 91.

1957
Der Volksmund und auch die offizielle Wissenschaft sprechen bisher von Krüppeln oder auch von verkrüppelten Kindern. Das sind zwei hässliche Ausdrücke. Wir haben sie nie angewandt, sondern dafür die etwas milder klingende Bezeichnung der Körperbehinderung gewählt, die jetzt auch die offizielle Bezeichnung in der Wissenschaft und in der Amtssprache ist.
Paul Dohrmann: Das körperbehinderte Kind, in: Zeitschrift für Heilpädagogik, S. 594-597, hier S. 594.

1961
körperlich, geistig und seelisch Behinderte
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom 30. Juni 1961.

1973
Als behindert im erziehungswissenschaftlichen Sinne gelten alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die in ihrem Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten so weit beeinträchtigt sind, dass ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft wesentlich erschwert ist, deshalb bedürfen sie besonderer pädagogischer Förderung.
Deutscher Bildungsrat: Empfehlungen der Bildungskommission. Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher Bonn 1973, S. 30.

1980
In attempting to apply the concept of disability, there is a need for caution in how the ideas are expressed. By concentrating on activities, disability is concerned with what happens the practical ‒ in a relatively neutral way, rather than with the absolute or ideal and any judgements that may attach thereto. To say that someone has a disability is to preserve neutrality ‒ nuances of interpretation in regard to his potential still being possible. However, statements phrased in terms of being rather than having tend to be more categorical and disadvantageous. Thus to say that someone is disabled, as if this were an adequate description of that individual, is to risk being dismissive and invoking stigma.
Handicap In the context of health experience, a handicap is a disadvantage for a given individual, resulting from an impairment or a disability, that limits or prevents the fulfilment of a role that is normal (depending on age, sex, and social and cultural factors) for that individual
Three important features of this concept should be borne in mind: (i) some value is attached to departure from a structural, functional, or performance norm, either by the individual himself or by his peers in a group to which he relates; (ii) the valuation is dependent on cultural norms, so that a person may be handicapped in one group and not in another ‒ time, place, status, and role are all contributory; (iii) in the first instance, the valuation is usually to the disadvantage of the affected individual. […]
Definition In the context of health experience, an impairment is any loss or abnormality of psychological, physiological, or anatomical structure or function […]
Definition In the context of health experience, a disability is any restriction or lack (resulting from an impainnent) of ability to perform an activity in the manner or within the range considered normal for a human being
World Health Organization: International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps. A Manual of Classification Relating to the Consequences of Disease, Genf 1980, S. 28f.; 48; 143.

1980
Die Einstellung von Nichtbehinderten gegenüber Menschen mit Behinderung ist unterschiedlich, sie reicht je nach Art der Behinderung von Angst, Abscheu und Ekel bis zu starkem Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und dem Wunsch nach „normalem“ Kontakt.
er: Mehr Verständnis für Behinderte!, in: Sozialer Fortschritt 29 (1980), S. 8-9, hier S. 8.

1981
Behinderung
ist kein statischer sondern ein dynamischer Begriff: es gibt keine Behinderung an sich. Was als Behinderung erfahren wird, ist variabel, läuft als Prozeß ab.
Behinderung ist mehr als eine bloße organische Schädigung: Behinderung ist ein komplexer Begriff im Schnittpunkt physischer, psychischer und sozialer Wirkfaktoren.
Behinderung hat eine subjektive Achse: Was und wie viel als Behinderung erfahren wird, wird wesentlich auch vom Selbst, von der Persönlichkeit mitbestimmt.
Behinderung ist ein relationaler Begriff: Was als Behinderung objektviert wird, hängt vom sozio-kulturellen Bezugsrahmen ab, z.B. von realisierbaren Hilfen oder Chancen oder realen Hindernissen in der vorgefundenen Umwelt.
Behinderung ist bezüglich verschiedenster Ausprägungsformen und Schweregrade ein höchst umfassender Begriff mit einer fließenden Grenze zur Nicht-Behinderung.
Behinderung ist ein doppelwertiger Begriff: im positiven Sinn definiert er das Wirksamwerden von begünstigenden Sozialleistungen, im negativen Sinne begünstigt er Diskriminierung und Ausgliederung.
Otto Speck: Die gesellschaftliche Eingliederung behinderter Menschen, in: Deutscher Sozialgerichtsverband, Verbandstagung Mainz 1980. Die soziale Sicherung der Behinderten, Wiesbaden 1981, S. 100-112, hier S. 101f.

1981
Am 27. April feiert die „Lebenshilfe Salzburg“, der Verein für Menschen mit Behinderung sein 15jähriges Bestehen.
Amt der Salzburger Landesregierung (Hg.): Landespolitischer Bericht, Salzburg 1981, S. 103.

1983
Das heute geltende Recht der Vormundschaft und Pflegschaft wird seit Jahren kritisiert. Es wurde seit der ersten Fassung des BGB (im Jahre 1896) in seinem Wesen nicht verändert und steht mit den Erfordernissen, die sich aus den derzeitigen Rehabilitations- und Integrationszielen der Hilfe für Menschen mit Behinderung einerseits und dem teilweise erheblich vergrößerten Schutzbedürfnis von Menschen mit geistiger Behinderung andererseits ergeben, nicht mehr im Einklang.
Erwin Dürr: Persönliche Hilfen und rechtlicher Schutz: Zur Weiterentwicklung des geltenden Rechtes der Vormundschaft und Pflegschaft, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 16 (1983), S. 273-277, hier S. 274.

1988
Behindert
ist wer 1. infolge einer Schädigung in seinen Funktionen so beeinträchtigt ist, 2. dass er in seiner Lebenswelt, deren Werte und Normen für ihn und seine Bezugspersonen Geltung haben, 3. nur unter außergewöhnlichen Bedingungen zu einem menschenwürdigen (d.h. durch kulturelle Teilhabe, personale Selbstbestimmung und soziale Mitbestimmung gekennzeichneten) und glücklichen Leben findet 4. und daher lernen muss, jene Werte und Normen auch seiner Beeinträchtigung gemäß zu beurteilen und an der Veränderung ihrer Entstehungsbedingungen mitzuwirken
Franz Schönberger: Die Integration Behinderter als moralische Maxime, in: Hans Eberwein (Hg.): Behinderte und Nichtbehinderte lernen gemeinsam. Handbuch der Integrationspädagogik, Weinheim 1988, S. 63-69.

1995
Behinderung ist jede Maßnahme, Struktur oder Verhaltensweise, die Menschen mit Beeinträchtigungen Lebensmöglichkeiten nimmt, beschränkt oder erschwert.
Entwurf für ein Gleichstellungsgesetz des Forums behinderter Juristinnen und Juristen; nach: Karl Finke: Behinderung der Behinderten, in: Grundrechte-Report 1997, S. 56-61.

1997
Es kann […] kein Zweifel bestehen, daß eine dominante Orientierung am Behinderungskomplex die eigentliche und generelle Erziehungsaufgabe verstellt und einer allzu starken Orientierung am Besonderen Vorschub leistet. Dieser einseitige, von Nachgeordnetem und vom Defekten her aufgezäumte und vom „Behinderungsbegriff“ beherrschte pädagogische Ansatz, das Behinderungsparadigma, birgt in sich die Gefahr, daß das Behinderte im Vordergrund steht, nicht oder weniger aber das, was als offene Möglichkeiten die pädagogische Aufgabe ausmacht […]
Behinderung kann […] nicht als heilpädagogischer Zentral- und Leitbegriff verstanden werden. Insbesondere unter dem Aspekt einer integrativen Heilpädagogik erscheint ein Behinderungsparadigma und damit ein Festhalten am dominanten Behinderungsbegriff als überholt. Ein heilpädagogischer Zentral- und Leitbegriff muß vielmehr gerade die Überschreitung des Behindernden um des Offenen, des Lebenserfüllenden, der Lebenstüchtigkeit, der Zugehörigkeit und des Lebensglücks mit anderen wegen beinhalten. […]
Soweit aus einem individuellen und gesellschaftlichen Interesse die Notwendigkeit besteht, einem Menschen zu seinem Schutz und zur Sicherung bestimmter Rechte den „Behindertenstatus“ zu geben, so wäre dies Aufgabe des Rechtssystems; und dieses weist einen solchen Status jeweils nur auf Grund bestimmter Gesetze zu. Erinnert sei an den Schwerbehindertenausweis! […] Nach dem heutigen Diskussionsstand in der Heilpädagogik muß das Behindertenparadigma als grundlegendes wissenschaftliches Paradigma der Heilpädagogik als überholt gelten. Die heilpädagogische Theoriebildung wie auch die heilpädagogische Praxis sind längt über dieses statische und das Abweichende in den Vordergrund stellende Paradigma hinausgewachsen. Längst stehen pädagogisch nicht Defekte und Behinderungen im Vordergrund, sondern die zu verwirklichenden menschlichen Werte und das erzieherisch als Aufgabe Bedeutsame, zumal unter integrativem Aspekt.
Otto Speck: Ist der Behinderungsbegriff ein heilpädagogischer Leitbegriff oder ein Hindernis für eine integrative Heilpädagogik?, in: Die neue Sonderschule 42 (1997), S. 253-265, hier S. 261; 262; 264.

1999
Als behindert gelten Personen, die in Folge einer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen und geistigen Funktion so weit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder ihre Teilnahme am Leben der Gesellschaft erschwert werden.
Ulrich Bleidick: Behinderung als pädagogische Aufgabe. Behinderungsbegriff und behindertenpädagogische Theorie, Stuttgart 1999, S. 15.

2001
Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Sozialgesetzbuch (SGB) IX, § 2, Abs. 1; https://www.buzer.de/gesetz/5856/a80821.htm 1.4.2021)

2008
Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens […] bekräftigend, dass alle Menschen-rechte und Grundfreiheiten allgemein gültig und unteilbar sind, einander bedingen und miteinander verknüpft sind und dass Menschen mit Behinderungen der volle Genuss dieser Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung garantiert werden muss, […] in der Erkenntnis, dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern
Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, in: Bundesgesetzblatt 2008, II, Nr. 35, ausgegeben zu Bonn am 31. Dezember 2008, S. 1419-1452, hier S. 1420.

2009
Behinderung ist […] je nach Perspektive und Kontext das Ergebnis eines Wahrnehmungs- und Deutungsprozesses angesichts von erwartungswidrigen Merkmalen oder Eigenschaften eines Individuums. Sie ist eine Folge der kulturellen Hervorbringung von ästhetischen, kognitiven, moralischen, kommunikativen, sozialen und ökonomischen Ordnungsmustern‚ die Eigenes und Fremdes, Vertrautes und Unvertrautes, Erwünschtes und Unerwünschtes, Normales und Abnormes, ,Gutes‘ und ‚Böses‘ unterscheidbar machen. Behinderung ist ein historisch wandelbares Figur-Hintergrund-Phänomen, das auf den Horizont von Verstehensprozessen verweist, auf die Geschichtlichkeit von sozial und kulturell geprägten wissenschaftlichen, pädagogischen, therapeutischen und anderen ,Optiken‘ und ‚Paradigmen‘, die Deutungs-, Interpretations- und Handlungsfolien bereitstellen. Behinderung wird als soziales Konstrukt, als Folge von Zuschreibungen, Etikettierung und Stigmatisierung sowie Systemeffekten beschrieben. Sie ist insofern verbunden mit sozialer Ungleichheit, d. h. der Benachteiligung beim Zugang zu Ressourcen und ,Kapital‘. Vor diesen Hintergründen ist Behinderung eine gesellschaftsrelevante sozialpolitische, bildungspolitische und sozialethische Aufgabe, die weit über den Kompetenz- und Aufgabenbereich der Pädagogik und Rehabilitation hinausgeht.
Markus Dederich: Behinderung als sozial- und kulturwissenschaftliche Kategorie, in: Markus Dederich und Wolfgang Jantzen (Hg.): Behinderung und Anerkennung, Stuttgart 2009, S. 15-40, hier S. 37.

2017
Das Wort Behinderung wurde erstmals im Zusammenhang mit der Krüppelfürsorge im frühen 20. Jahrhundert verwendet, setzte sich aber erst seit den 1960er-Iahren in verschiedenen Zusammenhängen, etwa der Medizin, der Pädagogik und dem Recht, »als abstrakte Generalisierung« (Lindmeier 1993, 28) durch. Seit den 1970er-Iahren hat es zahlreiche Versuche gegeben, die medizinisch konturierten und individualisierenden Engführungen des Behinderungsbegriffs mitsamt seiner oftmals (sonder-) anthropologischen Implikationen einer Kritik zu unterziehen und alternative Theorien bzw. Modelle zu entwickeln. Die Kritikpunkte am Behinderungsbegriff sind zahlreich und betreffen u. a. seine Verdinglichungs- und Stigmatisierungseffekte, seine fehlende Spezifität und seine pädagogische Fragwürdigkeit. […]
Trotz aller Unterschiede weisen die[…] neueren Theorien und Modelle einen gemeinsamen Nenner auf: sie konzipieren Behinderung als relationalen Begriff. Dieser bezeichnet kein Individuum mit spezifischen Störungen oder Beeinträchtigungen, sondern ein mehrdimensionales Geflecht von Beziehungen und Relationen, aus dem erst der Sachverhalt hervorgeht, der als Behinderung bezeichnet wird (Dederich 2009). Gemeinsam ist diesen Modellen bzw. Theorien auch, dass sie Behinderung nicht als klassifikatorische oder diagnostische, sondern als kritisch-analytische Kategorie verwenden. Sie versuchen theoretisch zu erfassen, wie kulturelle, soziale, politische und wissenschaftliche Resonanzen auf Menschen, die erwartungswidrige Eigenschaften zeigen, zu Deutungs- und Interpretationsmustern in der Gesellschaft verdichtet, als (Alltags-)Wissen verankert und durch soziale und institutionell regulierte Praktiken tradiert, aber auch weiterentwickelt und verändert werden. In praktischer Hinsicht zielen sie auf soziale Entdiskriminierung, institutionelle Nichtaussonderung, rechtliche Gleichstellung, individuelle Selbstbestimmung, psycho-soziales Empowerment, Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe, Anerkennung usw. Insbesondere im Kontext der pädagogischen Inklusionsdebatte ist aus den vielfältigen Aspekten der Kritik am Begriff der Behinderung die Forderung nach einer Dekategorisierung erhoben werden, d.h. einem möglichst weitgehenden Verzicht auf den Begriff. Interessanterweise wird diese Forderung in den Disability Studies kaum erhoben. Dies hat im Kern zwei Gründe: Mit der konsequenten Dekategorisierung wäre Behinderung auch als analytisch-kritische Kategorie zur Aufdeckung gesellschaftlicher Bedingungen, die spezifische Formen von Benachteiligung, Ausgrenzung oder Ungerechtigkeit hervorbringen, obsolet. Hinzu kommt, dass mit dem Wegfall der Kategorie legitime gruppenspezifische Ansprüche auf Hilfe und Unterstützung in Frage gestellt werden könnten.
Markus Dederich: Differenzlinie Behinderung, in: Kerstin Ziemen (Hg.): Lexikon Inklusion, Göttingen 2017, S. 48-49.

2018
Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.
Sozialgesetzbuch (SGB) IX, §2, Abs. 1; https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbix/2.html

2020
Im Medizinischen Modell wird Behinderung als direktes Resultat einer körperlichen oder geistigen Schädigung angesehen, die aufgrund einer Verletzung oder Krankheit entstanden ist. […] Die Schädigung bzw. das Defizit gilt es mit entsprechenden medizinisch-therapeutischen Behandlungsmethoden und/oder pädagogischer Förderung zu beseitigen oder zumindest so weit zu verbessern, dass der betreffenden Person eine »normale« Lebensführung in der Gesellschaft möglich ist – und sie quasi als rehabilitiert bezeichnet werden kann […]. Behinderung ist nach diesem Modell ein objektiv beschreibbares, negatives Wesensmerkmal einer Person (Stigma) – hinter dem alle weiteren Eigenschaften und Fähigkeiten verblassen. Behinderung wird als schicksalhaftes und persönliches Unglück angesehen, das es individuell zu bewältigen gilt, daher auch die alternative Bezeichnung Individuelles Modell von Behinderung […]
Die Kernaussage dieses Modells [des sozialen Modells von Behinderung] lautet, dass Behinderung kein Ergebnis medizinischer Pathologie, sondern das Resultat sozialer Organisation ist. Menschen werden nicht aufgrund einer körperlichen und/oder geistigen Schädigung behindert, sondern durch das soziale System, das Teilhabehindernisse errichtet […] Entscheidend ist, dass in dem Sozialen Modell die Lösungsstrategie nicht am Individuum, sondern an der Gesellschaft ansetzt. Behinderung (Disability) wird als sozial verursachtes Problem betrachtet, bei dem die Schädigung (Impairment) so gut wie keine Rolle spielt. »Veränderungswürdig und veränderungsfähig erscheinen aus der Perspektive der Disability Studies vielmehr gesellschaftlich-kulturelle Verhältnisse, die offen oder latent behindertenfeindliche, abwertende oder unterdrücken-de Lebensumstände und Handlungsweisen hervorbringen.« (Dederich 2007: 31) Behinderung beschreibt also in erster Linie eine Erfahrung eines sozialen und nicht eines körperlichen Zustandes, und diese Erfahrung ist zutiefst verknüpft mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen. […]
Diese Perspektive [das kulturelle Modell von Behinderung] betrachtet weniger die Entstehung von Behinderung, sondern fragt vielmehr danach wie »Normalität« gesellschaftlich konstruiert wird. Hierbei spielt vor allem die kulturelle Relativität und Historizität von Abwertungs- und Ausgrenzungsprozessen eine wichtige Rolle (vgl. Waldschmidt 2005: 25). Untersuchungsgegenstand ist folglich nicht allein der »behinderte« Mensch, sondern die »normale« Gesellschaft und deren Konstruktionsmechanismen von Normalität und Abweichung. […] Das Kulturelle Modell vollzieht folglich einen Perspektivwechsel von 180 Grad: Nicht die Mehrheitsgesellschaft untersucht das Phänomen »Behinderung« aus dem Blickwinkel von »Normalität«, sondern aus dem Blickwickel von »Behinderung« wird die Mehrheitsgesellschaft und deren »Normalität« zum Untersuchungsgegenstand deklariert
Christoph Egen: Was ist Behinderung? Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen vom Mittelalter bis zur Postmoderne, Bielefeld 2020, S. 23f.; 26f.; 32f.

 

Literatur

Otto Speck: Die gesellschaftliche Eingliederung behinderter Menschen, in: Deutscher Sozialgerichtsverband, Verbandstagung Mainz 1980. Die soziale Sicherung der Behinderten, Wiesbaden 1981, S. 100-112,

Günter L. Huber: Behinderung, in: Hans Schiefele und Andreas Krapp (Hg.): Handlexikon zur Pädagogischen Psychologie, München 1981, S. 40-42.

Hans Eberwein (Hg.): Behinderte und Nichtbehinderte lernen gemeinsam. Handbuch der Integrationspädagogik, Weinheim 1988.

Christian Lindmeier: Behinderung ‒ Phänomen oder Faktum, Bad Heilbrunn 1993.

Otto Speck: Ist der Behinderungsbegriff ein heilpädagogischer Leitbegriff oder ein Hindernis für eine integrative Heilpädagogik?, in: Die neue Sonderschule 42 (1997), S. 253-265.

Markus Dederich: Menschen mit Behinderung zwischen Ausschluss und Anerkennung, Bad Heilbrunn 2001.

Petra Fuchs: „Körperbehinderte“ zwischen Selbstaufgabe und Emanzipation, Berlin 2001.

Felix Welti: Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat: Freiheit, Gleichheit und Teilhabe behinderter Menschen, Tübingen 2005.

Verein Lebenshilfe Salzburg: ABC für Jedermensch. Von und über Menschen mit geistiger Behinderung, Salzburg 2007.

Anne Walschmidt und Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007.

Markus Dederich: Behinderung als sozial- und kulturwissenschaftliche Kategorie, in: Markus Dederich und Wolfgang Jantzen (Hg.): Behinderung und Anerkennung, Stuttgart 2009, S. 15-40.

Hans-Walter Schmuhl: Exklusion und Inklusion durch Sprache – Zur Geschichte des Begriffs Behinderung, Berlin 2010.

Christoph Egen: Was ist Behinderung? Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen vom Mittelalter bis zur Postmoderne, Bielefeld 2020.