1672
Grosse Herren lassen ihre Zier-Garten mit mancherley Blumen und Pflanzen / zurichten: also hat die Hand deß Allmächtigen / so wol den Erdboden / als daß Wasser / mit Gestalten / belebten and unbelebten / außgeschmückt / und wiederum in beyderley so wol lebendigen als leblosen / Gechöpffen / die reiche Vielfältigkeit erwiesen: Damit der Mensch mehr als einerley Zeugnissen Göttlicher Weisheit und Allmacht anträffe.
Erasmus Francisci: Acerra exoticorum oder historisches Rauchfaß, Franckfurt 1772, S. 916 (LXXXV Der wunderliche Fisch) (= Franckfurt 1674, S. 820f.).
1705
Die heilige einfalt bringt rechte viel vielfalt / hast du bezeuget
Johann Anastasius Freylinghausen: Geist-reiches Gesang-Buch, Halle 1705, S. 863.
1812
Die Vielfalt, o. Mz., der Zustand, die Beschaffenheit da etwas vielfältig ist, in Gegensatz der Einfalt.
Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 4, Braunschweig 1811, S. 415.
1910
[Bunt und reichhaltig muß unsere Natur sein, um zu erfreuen, um zu interessieren. Jeder Spaziergang soll eine Fülle verschiedener Eindrücke hinterlassen.
Konrad Guenther: Der Naturschutz, Freiburg im Breisgau 1910, S. 47.]
1925
Stärkster geistiger Eindruck von jeder Reise in den letzten Jahren trotz aller einzelnen Beglückung: ein leises Grauen vor der Monotonisierung der Welt. Alles wird gleichförmiger in den äußeren Lebensformen, alles nivelliert sich auf ein einheitliches kulturelles Schema. Die individuellen Gebräuche der Völker schleifen sich ab, die Trachten werden uniform, die Sitten international. Immer mehr scheinen die Länder gleichsam ineinandergeschoben, die Menschen nach einem Schema tätig und lebendig, immer mehr die Städte einander äußerlich ähnlich. […] Es ist wahrscheinlich das brennendste, das entscheidende Phänomen unserer Zeit. […]
Alle diese Erscheinungen [Tanz, Mode, Radio, Kino] haben nur einen Sinn: Gleichzeitigkeit und damit Identität. Der Londoner, der Pariser und der Wiener hören in der gleichen Sekunde dasselbe, und diese Gleichzeitigkeit, die Uniformität berauscht durch das Ueberdimensionale. Es ist eine Trunkenheit in allen diesen neuen technischen Wundern und doch eine ungeheure Ernüchterung des Seelischen, ein Stimulans für die Masse und gleichzeitig eine gefährliche Verführung zur Passivität für den Einzelnen. […]
Noch bleibt die Natur wandelhaft in ihren Formen und schenkt sich Gebirge und Meer im Umschwung der Jahreszeiten ewig gestaltend neu. Noch spielt Eros sein heiter vielfältiges Spiel, noch lebt die Kunst im Gestalten unaufhörlich vielfaches Sein, noch strömt Musik in immer anders tönender Quelle aus einzelner Menschen aufgeschlossener Brust
Stefan Zweig: Die Monotonisierung der Welt, in: Neue Freie Presse, 31. Januar 1925, S. 1-4, hier S. 1f.; 4.
1941
Wenn in dem „Rasenstück“ [Dürers] eine reiche Vielfalt zu einem Bild ausgeglichener Schönheit verschmolzen ist, so gilt das gleiche auch für die deutsche Landschaft. Wo immer sie noch schön ist, da ist sie vielfältig; ja diese Mannigfaltigkeit stellt geradezu das eigentliche Wesen der mitteleuropäischen Landschaft dar. Wo immer man von draußen her nach Deutschland zurückkommt, wo es noch schön ist, da ist es von einer unerhörten Mannigfaltigkeit. Da ist alles in ihr enthalten, was zum Begriff der deutschen Heimat gehört, Wald und Wiese und Feld und Baum und Busch und Wasser in jeder Form.
Alwin Seifert: Im Zeitalter des Lebendigen. Natur, Heimat, Technik, Dresden 1941, S. 56.
1958
Obwohl man in der Forstwirtschaft schon lange erkannt hat, daß nur die Vielfalt des Lebendigen in Mischwäldern als naturgemäße Waldform Aussicht auf längere Lebensdauer hat, erleben wir es im Bereiche des Kleinwaldbesitzers immer wieder, daß abgeholzte Laubholbestände durch reine Fichtenkulturen ersetzt werden, weil man so auf schnellere Erträge hofft.
Walther Emeis: Wald und Waldwirtschaft im Natur- und Landschaftsschutz, in: Wald und Wild in Schleswig-Holstein, Kiel 1958, S. 59-63, hier S. 63.
1976
Natur und Landschaft sind im besiedelten und unbesiedelten Bereich so zu schützen, zu pflegen und zu entwickeln, daß 1. die Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts, 2. die Nutzungsfähigkeit der Naturgüter, 3. die Pflanzen- und Tierwelt sowie 4. die Vielfalt, Eigenart und Schönheit von Natur und Landschaft als Lebensgrundlagen des Menschen und als Voraussetzung für seine Erholung in Natur und Landschaft nachhaltig gesichert sind.
Bundesnaturschutzgesetz vom 20. Dezember 1976, in: Bundesgesetzesblatt Nr. 147 vom 23. Dez. 1976, S. 3573-3582, hier S. 3574.
1980
Pressevielfalt soll es im Dienste der Pressefreiheit gewährleisten, daß die Presse nach Art und Zahl ihrer Organe jedem Bürger, um ihn zu informieren und ihm zur Bildung einer eigenen Meinung zu verhelfen, an seinem Wohnsitz, und zwar rechtzeitig, ein möglichst vollständiges, jedenfalls eben ausreichendes Informationsangebot, bestehend aus Nachrichten, eigenen Meinungen des Mediums sowie von ihm wiedergegebenen Meinungen, unterbreitet.
Erwin Gehrhardt: „Pressevielfalt“ ‒ ein oft gebrauchter, doch ungeklärter Begriff, in: Archiv für Presserecht 11 (4) (1980), S. 200-205, hier S. 205.
1996
Das Bundesverfassungsgericht hat an der Bedeutung der Meinungsvielfalt im Rundfunk für die individuelle und öffentliche Meinungsbildung und damit sowohl für die Entfaltung der Persönlichkeit als auch für die Aufrechterhaltung der demokratischen Ordnung keinen Zweifel gelassen
Bundesverfassungsgericht: Beschluss des Ersten Senats vom 18. Dezember 1996 ‒ 1 BvR 748/93 ‒, Rn. 1-38, auch in: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 95 (1997), S. 172.
1997
Das wichtigste ästhetische Merkmal der traditionellen Kulturlandschaft war ihre große Buntheit und Vielfalt. Von Land zu Land, von Region zu Region, oft von Dorf zu Dorf schufen sich die Menschen Lebensformen, die sich fast in jeder Hinsicht voneinander unterschieden. Die bäuerliche Landwirtschaft war in hohem Maße an ortsspezifische Bedingungen gebunden: an den Bodentypus, das Kleinklima, die Verfügung über Wasser, das Vorkommen bestimmter Mineralien und Gesteine, aber auch an den Zugang zu städtischen Märkten oder zu Transportwegen. Daher sah die Verteilung von Acker, Wald und. Wiese überall anders aus, wurden unterschiedliche Fruchtkombinationen angebaut, bildeten sich Lebensräume für unterschiedliche Tiere und Pflanzen. Dies war aber nicht alles. Zur bäuerlichen Kulturlandschaft gehörte nicht nur eine hochdifferenzierte Bodenkultur, sondern auch eine materielle Kultur der Menschen, eine Welt von Bauten und Artefakten, die sich von Landstrich zu Landstrich unterschieden. Ein Fischerdorf an der Nordsee sah fast in jeder Beziehung anders aus als eine Siedlung von Hirten in den Alpen. Aber auch ähnliche Umweltbedingungen führten zu höchst unterschiedlichen materiellen Ausprägungen. Niemand würde ein Bauernhaus in den Karpaten mit einem Schwarzwaldhof verwechseln. Die traditionelle bäuerliche Kultur bildete einen Reigen unverwechselbarer kleiner Welten. Niemals war die Wirklichkeit der Landschaft ästhetisch so reich, so voller Besonderheit und Abwechslung wie in der Zeit agrarischer Kulturen. Allerdings war dies ein Reichtum, der sich nur dem Vergleich von Ort zu Ort erschloß. Der bäuerliche Mikrokosmos als solcher war von einer Enge und Borniertheit, deren Beharrlichkeit eben die Voraussetzung dafür bot, daß der schweifende Blick von außerhalb so viele Unterschiede sah. […] Die konkreten, ortsspezifischen Umweltbedingungen stellten den Bauern Probleme, die sie immer wieder aufs neue lösen mußten, ohne daß der Lösungweg vollständig von den Umweltbedingungen determiniert wurde. Es existierten vielmehr weite Räume für das freie Spiel der kulturellen Musterbildung. […]
[Es lag] eine evolutionäre Prämie darauf, sich gegenüber Nachbardörfern oder fremden Stämmen abzugrenzen, indem man sich eine symbolische Eigenart zulegt, die es auf den ersten Blick gestattet, einen Angehörigen des eigenen von dem des fremden Volkes zu unterscheiden.
Rolf Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt, München 1997, S. 120f.; 122.
2001
[Wir denken], dass das Biodiversitätskonzept zwei grundverschiedene Vorstellungen umfasst, und dass jede von ihnen einem der beiden Pole der politisch-weltanschaulich-kulturellen Hauptkontroverse der Moderne zuzuordnen ist. […]
im liberalen Weltbild [gilt:] Je vielfältiger die „Natur“, d.h. die Ressourcenbasis, desto mehr Möglichkeiten von Nutzungen sind gegeben […]
Das Prinzip [im Konservativismus] ist […] nicht [wie im Liberalismus] Freiheit als Bindungslosigkeit, Autonomie, Innovation, offener Fortschritt, sondern frei ist, wer sich eigenverantwortlich entwickelt unter Berücksichtigung vorgegebener Bindungen durch das höhere Ganze, in das er sich gestellt sieht. […] Was […] nur seine Besonderheit ‒ seine Verschiedenheit von allen anderen ‒ ausbildet, seine Herkunft, seine Bindung an ein größeres Ganzes („Heimat“ beispielsweise) in seinem Entwicklungsprozess nicht beachtet, hat ebenfalls keine Eigenart: er ist nur eigenartig. Eigenart ist der zentrale Begriff des konservativen Weltbilds. Wenn alles Individuelle nicht beliebig vielfältig ist, sondern genau so vielfältig, wie es seiner Eigenart gemäß ist, hat das Weltganze die höchstmögliche Vielfalt […]. Vielfalt ist hier immer die Vielfalt einer Einheit, die sich differenziert und dabei mit sich identisch bleibt.
Thomas Kirchhoff und Ludwig Trepl: Vom Wert der Biodiversität. Über konkurrierende politische Theorien in der Diskussion um Biodiversität, in: Harald Spehl und Martin Held (Hg.): Vom Wert der Vielfalt. Diversität in Ökonomie und Ökologie (= Zeitschrift für angewandte Umweltforschung Sonderheft 13), Trier 2001, S. 27-44, hier S. 27; 36; 38f.
2004
„Vielfalt“ oder „Mannigfaltigkeit“ haben als „rechtstechnische“ Begriffe keine Tradition. In den Rechtslexica der Gegenwart tauchen sie als Stichworte nicht auf. […]
[Vielen] Rechtsentwicklungen ist eines gemeinsam: Ein Zustand der Mannigfaltigkeit wird als rechtlich erwünscht oder gar notwendig dargestellt; damit wird vom geltenden Recht die Erhaltung, Fortentwicklung oder sogar Herstellung einer solchen materiellen Vielfaltslage gefordert. Dabei macht es keinen wesentlichen Unterschied mehr, ob dies ausdrücklich geschieht, wie im Umweltrecht, oder implizit, durch die Verwendung von Begriffen, in denen wie etwa in der „Meinung“, oder als deren Gegensatz, wie ihm Falle der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, materielle Vielfaltvorstellungen notwendig mitgedacht sind. Hier kann daher zusammenfassend von rechtlichen Vielfaltsgeboten gesprochen werden. […]
Von grundsätzlichem Gewicht sind auch die Aussagen zur pluralistischen Demokratie, welche gerade als eine „Staatsform der Vielfalt“ erscheint und auch materiell-rechtlich zu einem allgemeinen favor varietatis führt. […]
Freiheit ist ein Rechtsprinzip, in Form einer Grundnorm der demokratischen Staatsordnung, aus dem wesentlich Vielfalt entsteht, aus dem sie noch weit mehr wachsen kann. Im Namen ihres Selbstbestimmungsrechts bringt eine in sich vielfältige Bürgerschaft laufend solche Diversität hervor, in all den unübersehbaren Bereichen des Außerrechtlich-Gesellschaftlichen, die ins Recht rezipiert werden, aber auch in dessen Gestaltungen. Zwar ist Freiheit (noch) nicht Vielfalt, sondern nur eine Möglichkeit zu ihr, kann sie doch auch inaktiv bleiben oder Vereinheitlichung bewirken. Dennoch kommt aus der Freiheit und in ihrem Namen der Vielfalt, welche so entsteht, ein Ethos zu, das dem der Gleichheit entspricht. Die daraus wachsende Überzeugungskraft der Vielfalt in den Räumen der Gleichheit aber auch als deren Beschränkung, lässt sie zu einem Gegenbegriff zur Gleichheit werden. In ihrem Namen ist das Öffentliche Recht ebenso in einem neuen Licht zu sehen, wie es sich einst in dem der Gleichheit erneuert zeigte.
Anna Leisner-Egensperger: Vielfalt. Ein Begriff des öffentlichen Rechts, Berlin 2004, S. 21; 22f.; 43; 201.
2008
Die Grundsätze dieses Übereinkommens sind: […] die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt [engl.: human diversity] und der Menschheit
Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, in: Bundesgesetzblatt 2008, II, Nr. 35, ausgegeben zu Bonn am 31. Dezember 2008, S. 1419-1452, hier S. 1424.
2009
Natur und Landschaft sind auf Grund ihres eigenen Wertes und als Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen im besiedelten und unbesiedelten Bereich nach Maßgabe der nachfolgenden Absätze so zu schützen, dass 1. die biologische Vielfalt, 2. die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts einschließlich der Regenerationsfähigkeit und nachhaltigen Nutzungsfähigkeit der Naturgüter sowie 3. die Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie der Erholungswert von Natur und Landschaft auf Dauer gesichert sind; der Schutz umfasst auch die Pflege, die Entwicklung und, soweit erforderlich, die Wiederherstellung von Natur und Landschaft (allgemeiner Grundsatz). […]
Für dieses Gesetz gelten folgende Begriffsbestimmungen: 1. biologische Vielfalt [:] die Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten einschließlich der innerartlichen Vielfalt sowie die Vielfalt an Formen von Lebensgemeinschaften und Biotopen
Bundesnaturschutzgesetz vom 29. Juli 2009. Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 51, ausgegeben zu Bonn am 6. August 2009, S. 2542-2579, hier S. 2542; 2546.
2009
Mit ‚Vielfalt‘ wird eine Erkenntnis- und Handlungsperspektive eröffnet, die in der Forschung nach Verschiedenheit fragt und in der Praxis Verschiedenheit zu ermöglichen sucht. Die Anerkennung des Vielfältigen auf der Basis gleicher Rechte bildet ein grundlegendes Motiv in der Ethik der Behindertenpädagogik. […] Mit der Verwendung des Begriffs Vielfalt und einer Reihe verwandter Begriffe (s.u.) ist eine Wertschätzung von als vielfältig gekennzeichneten Phänomenen verbunden. So geht es zum Beispiel im biologischen Kontext um die Wertschätzung der ,Artenvielfalt‘, im juristischen Kontext um die Wertschätzung der menschlichen bzw. der kulturellen Vielfalt und im erziehungswissenschaftlichen Kontext um die Wertschätzung der Vielfalt der Adressaten von Pädagogik
Annedore Prengel: Vielfalt, in: Markus Dederich und Wolfgang Jantzen (Hg.): Behinderung und Anerkennung, Stuttgart 2009, S. 104-112, hier S. 104.
2011
Ohne beide Seiten gleich zu stellen, entsteht keine Vielfalt. „Vielfalt“ ist also das Produkt eines spezifischen operativen Verfahrens.
Wolf-Dietrich Bukow: Zur alltäglichen Vielfalt von Vielfalt – postmoderne Arrangements und Inszenierungen, in: Cristina Allemann-Ghionda und Wolf-Dietrich Bukow (Hg.): Orte der Diversität. Formate. Arrangements und Inszenierungen, Wiesbaden 2011, S. 35-54, hier S. 52.
2013
Die Vielfalt sozialen Lebens hat in den letzten Jahrzehnten enorm zugenommen. Ob es um Glaubens- oder Geschlechterorientierungen, um Erwerbsformen oder Klassenlagen, um Lebensstile oder soziale Milieus geht: Wer würde die allgemeine Annahme bestreiten, dass diese und weitere Aspekte menschlichen Zusammenlebens vielfältiger geworden sind? Die Soziologie vielleicht. Für die wissenschaftliche Betrachtung sozialen Wandels ist immer nur sehr schwer auszumachen, welcher Anteil von wahrgenommenen Veränderungen auf das Konto der Veränderung der Wahrnehmung und welcher auf das Konto der intersubjektiv überprüften und ,objektiv‘ konstatierten Wahrnehmung von Veränderungen basiert. […]
In diesem Beitrag wird die These eines grundlegenden Wandels sozialer Vielfalt und auch der Mechanismen sozialen Zusammenhalts entwickelt. Es wird argumentiert, dass sowohl das Ausmaß der Vielfalt von Äußerungsformen des sozialen Lebens zugenommen hat als auch und vor allem die Qualität und Beschaffenheit dieser Vielfalt: Der Übergang zur modernen industriell-kapitalistischen Gesellschaft um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ging […] mit einer enormen Zunahme vorwiegend essentialistisch und substantiell vorgestellter sozialer Vielfalt einher; dagegen gewinnt zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem konstruktivistisch und relational wahrgenommene Vielfalt an Bedeutung. Entsprechend haben sich auch die Formen der Stiftung sozialen Zusammenhalts von essentialistisch-substantiellen zu konstruktivistisch-relationalen Mechanismen verschoben. Dabei werden allerdings die zuvor dominanten essentialistisch-substantiellen Gestalten sozialer Vielfalt und sozialen Zusammenhalts nicht beseitigt, sondern durch relationale Formen ergänzt und erweitert. Diese Verschiebungen von essentialistisch-substantiellen zu konstruktivistisch-relationalen Konzepten von Vielfalt und Zusammenhalt betreffen sowohl die Welt der alltäglichen Lebenspraxis und Wirklichkeitskonstruktionen der Menschen als auch die Poppersche ,Welt 3‘ der soziologisch-wissenschaftlichen Reflektion über die ,Welt 1‘ und die ,Welt 2‘. […]
in einer konstruktivistischen Perspektive [wird] der Umstand betont, dass Sozialräume erst durch die (implizite) alltägliche (Re-)Produktion, durch soziale Wahrnehmungs- und Handlungsakte der Menschen selbst existieren. Insofern existieren Sozialräume nicht als statische Substanzen, sondern sind immer Prozesse des ,Machens‘.
Ludger Pries: Erweiterter Zusammenhalt in wachsender Vielfalt, in: ders. (Hg.): Zusammenhalt durch Vielfalt? Bindungskräfte der Vergesellschaftung im 21. Jahrhundert‚ Wiesbaden 2013, S. 13-48, hier S. 13; 14; 25.
2017
In einer konstruktivistischen Perspektive ist Vielfalt nicht natürlich gegeben, sondern wird erst durch historische, soziale, kulturelle und pädagogische Praktiken hervorgebracht. Häufig genannte Differenzen im Vielfaltsdiskurs sind z. B. Behinderung/Beeinträchtigung, Kultur, Ethnizität, Sprache, Religion, Geschlecht, Sexualität, Lebensformen, Lerninteressen. Positiv konnotiert wird Vielfalt auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen und Handlungsfeldern. Exemplarisch lässt sich auf das offizielle Motto der Europäischen Union In Vielfalt geeint, das Übereinkommen über die biologische Vielfalt (CBD) oder auf die Unternehmensinitiative Charta der Vielfalt (2006) verweisen. In der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wird Behinderung 1) als Teil der menschlichen Vielfalt akzentuiert, (2) auf die Vielfalt innerhalb der Gruppe von Menschen mit Behinderungen verwiesen sowie (3) die Vielfalt ihrer Communities gewürdigt.
Katharina Walgenbach und Susanne Winnerling: Vielfalt, in: Kerstin Ziemen (Hg.): Lexikon Inklusion, Göttingen 2017, S. 242-244, hier S. 242; .
2018
Vielgestaltigkeit kann […] keineswegs mit Vieldeutigkeit einhergehen, da innerhalb eines jeden Kollektivs ein hohes Maß an Eindeutigkeit über Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zu ihm und über die Eigenschaften herrscht, die die Zugehörigkeit begründen. Wir begegnen hier einer gängigen Strategie der Entambiguisierung, die ich »Kästchenbildung« nennen möchte: Wenn offensichtlich keine Aussicht darauf besteht, Eindeutigkeit durch Beseitigung des Ambigen herzustellen, bleibt als zweitbeste Lösung immer noch die Möglichkeit, die Welt in Kästchen zu sortieren, innerhalb derer dann aber wenigstens größtmögliche Eindeutigkeit herrschen soll. Die Existenz des Anderen bleibt zwar immer noch ein Ärgernis, doch wird die eigene Identität wenigstens nicht durch Vermischung kontaminiert. […] [Wir sehen], dass die Untergliederung in Kästchen Vielfalt nicht fördert. Kästchenbildung wirkt nicht integrativ, sondern abschottend, trennend, segregierend. Sie führt mithin auch kaum zu Akzeptanz, sondern allenfalls zu Toleranz.
Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen 2018, S. 77-9.
2018
Auch kulturelle Vielfalt kann […] stets auf das Individuum als Träger bestimmter kultureller Eigenschaften heruntergebrochen werden. Das Individuum bildet diesem Verständnis nach stets den Ausgangspunkt für Vielfalt, weil es letztlich dessen individuelle Lebensbedingungen sind, die bei der Anerkennung kollektiver Identitäten oder sonstiger Gruppierungen bewahrt, geschützt oder befördert werden sollen. Ein rein gruppenbezogenes Verständnis von Vielfalt birgt zudem die Gefahr, diese stets vorhandene individuelle Verwurzelung zu überspielen, dadurch kollektive Identitäten zu überhöhen und so in die von Amartya Sen beschriebene Identitätsfalle zu tappen. […]
Ein näherer Blick offenbart […], dass ein solcher Gegensatz ‒ jedenfalls im Grundsatz ‒ zwischen Vielfalt und Gleichheit nicht besteht, dass beide Begriffe sogar im Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit zueinander stehen: Wo keine Vielfalt, da keine Gleichheit und wo keine Gleichheit, da auch keine Vielfalt. […]
Vielfalt ist nur in Beziehung zu anderen denkbar: […] Vielfalt ist mithin von Autonomie abzugrenzen, es geht bei ihr gerade nicht um ein »Streben nach Selbigkeit« [Pierre Rosanvallon: Die Gesellschaft der Gleichen, 2017, S. 507]‚ um völlige Loslösung von der restlichen Gesellschaft, sondern um ein vielfältiges und anerkanntes Aufgehen in derselben. Vielfalt ist insofern ‒ ebenso wie Gleichheit ‒ »durch den Faktor einer Relation« zu anderen geprägt und ohne diese Relation nicht konstruierbar. Ein solchermaßen relationistisches Vielfaltsverhältnis gründet auf der Erwartung der gegenseitigen Anerkennung der jeweils eigenen Vielfalt als gleichwertig. Diese (gleiche) Reziprozitätserwartung ist damit unweigerlich mit Vielfalt verknüpft. […]
Eine Konsequenz von verstetigten Diskriminierungserfahrungen kann ein Phänomen sein, das hier als Überbetonung der Vielfalt bezeichnet werden soll. Es handelt sich dabei um eine Form der Vielfalt, bei der die Abgrenzung, die Andersheit und das Trennende so sehr in den Vordergrund gerückt werden, dass das hinter der Vielfalt stehende, alle Mitglieder der Gesellschaft Verbindende und damit die grundlegende Gleichheit in der Vielfalt nicht mehr erkennbar sind. Es geht dann nicht mehr um gegenseitige Anerkennung der Vielfalt, sondern um die Bildung mehr oder weniger abgeschlossener Identitätsgemeinschaften, die zur Konstruktion sozialer Gegnerschaften führt (Frau gegen Mann, Weiß gegen Schwarz, Christ gegen Muslim etc.). Pierre Rosanvallon spricht von »Separatismus« [Die Gesellschaft der Gleichen, S. 310].
Alexander Thiele: Gleichheit angesichts von Vielfalt als Gegenstand des philosophischen und juristischen Diskurses, in: Deutsches Verwaltungsblatt 133, 17 (2018), S. 1112-1119, hier S. 1114; 1117.
Annedore Prengel: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in interkultureller, feministischer und integrativer Pädagogik, Opladen 1993.
Gerhard Wagner: Herausforderung Vielfalt. Plädoyer für eine kosmopolitische Soziologie, Konstanz 1999.
Anna Leisner-Egensperger: Vielfalt. Ein Begriff des öffentlichen Rechts, Berlin 2004.
Annedore Prengel: Vielfalt, in: Markus Dederich und Wolfgang Jantzen (Hg.): Behinderung und Anerkennung, Stuttgart 2009, S. 104-112.
Ludger Pries (Hg.): Zusammenhalt durch Vielfalt? Bindungskräfte der Vergesellschaftung im 21. Jahrhundert‚ Wiesbaden 2013.
Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen 2018.
Florian Hurtig: Paradise lost. Vom Ende der Vielfalt und dem Siegeszug der Monokultur, München 2020.