um 410 v. Chr.
[Gefallenenrede des Perikles, 430/431 v. Chr.] Wir haben eine Ordnung des Zusammenlebens, die nicht die Gesetze der Nachbarn zu kopieren trachtet, sind vielmehr selbst eher so manchem Vorbild, als dass wir die anderen nachahmten. Und mit Namen wird sie, weil alles nicht mit Blick auf wenige, sondern auf Mehrheiten organisiert ist, Demokratie genannt; es steht gemäß den Gesetzen allen bei der Verfolgung ihrer privaten Interessen das Gleiche zu, was aber das gesellschaftliche Ansehen betrifft, wie jeder sich auf irgendeinem Feld Respekt verschafft, so folgt hier die Bevorzugung im öffentlichen Leben nicht aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, sondern aus der Leistung, und andererseits ist keiner im Hinblick auf Begrenztheit seiner Mittel, wenn er nur etwas Gutes für die Stadt beizutragen hat, durch Mangel an Ansehen ausgeschlossen.
Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, übers. von Michael Weißenberger, Berlin 2017, S. 353 (II, 37).

1536
Democratia, Herrschung des gemeynen volcks
Petrus Dasypodius: Dictionarium latinogermanicum, Straßburg 1536 (ND Hildesheim 1974).

1675-6
Hoc jus, quod multitudinis potentia definitur, Imperium appellari solet. Atque hoc is absolute tenet, qui curam Reipublicae ex communi consensu habet, nempe jura statuendi, interpretandi, et abolendi, urbes muniendi, de bello, et pace decernendi, etc. Quod si haec cura ad Concilium pertineat, quod ex communi multitudine componitur, tum Imperium Democratia appellatur, si autem ex quibusdam tantum selectis, Aristocratia, et si denique Reipublicae cura, et consequenter imperium penes unum sit, tum Monarchia appellatur.
Baruch de Spinoza: Tractatus politicus (1675-6), in: Opera posthuma, Amsterdam 1677, S. 265-354, hier S. 276; dt. Politischer Traktat, hg. von Wolfgang Bartuschat, Hamburg 1994, S. 28 (II, 17).

1730er
La Démocratie est le Gouvernement populaire où tout le Peuple a part également sans distinction de Nobles ni de Rotouriers. Il y a fausse & légitime Démocratie. La fausse Démocratie tombe bientôt dans l’Anarchie, c’est le Gouvernement de la multitude; tel est un Peuple révolté; alors le Peuple insolent méprise les Loix & la raison, Son Despotisme tyrannique se remarque par la violence de ses mouvemens & par d’incertitude de ses délibérations. Dans la véritable Démocratie on agit par Députés. […]
L’inégalité des fortunes trouble l’ordre […]
pour le bonheur d’un Etat, il falloit maintenir l’égalité entre Citoyens autant qu’il se pouvoit
René Louis Marquis d’Argenson: Considérations sur le gouvernement ancien et présent de la France, Amsterdam 1764, S. 7; 54; 128.

1787
By a faction, I understand a number of citizens, whether amounting to a majority or a minority of the whole, who are united and actuated by some common impulse of passion, or of interest, adversed to the rights of other citizens, or to the permanent and aggregate interests of the community. […]
a pure democracy, by which I mean a society consisting of a small number of citizens, who assemble and administer the government in person, can admit of no cure for the mischiefs of faction. A common passion or interest will, in almost every case, be felt by a majority of the whole; a communication and concert result from the form of government itself; and there is nothing to check the inducements to sacrifice the weaker party or an obnoxious individual. […]
The two great points of difference between a democracy and a republic [scil. a government in which the scheme of representation takes place] are: first, the delegation of the government, in the latter, to a small number of citizens elected by the rest; secondly, the greater number of citizens, and greater sphere of country, over which the latter may be extended. The effect of the first difference is, on the one hand, to refine and enlarge the public views, by passing them through the medium of a chosen body of citizens, whose wisdom may best discern the true interest of their country, and whose patriotism and love of justice will be least likely to sacrifice it to temporary or partial considerations. Under such a regulation, it may well happen that the public voice, pronounced by the representatives of the people, will be more consonant to the public good than if pronounced by the people themselves, convened for the purpose.
James Madison: Federalist No. 10, November 23, 1787 (https://guides.loc.gov/federalist-papers/).

1838
Demokratie. Wenn in der neuern Zeit von der Herrschaft des Demos und den Bestrebungen zu Gunsten desselben die Rede ist, so müssen sehr verschiedene Dinge voneinander unterschieden werden: 1) die eigentliche Demokratie als Form der Verfassung und Verwaltung des Staats, in welcher das ganze Volk, ohne Unterschied der Stände und nur mit Ausschluß der Frauen, Sklaven und andern Unfreien, die Regierung selbst führt, und nach einer Mehrheit der Stimmen, in deren Formirung oder Aufsammlung auch wieder bedeutende Verschiedenheiten vorkommen können, unmittelbar in höchster Instanz alle Zweige der Hoheitsrechte ausübt; 2) die Macht der materialen Interessen und Bedürfnisse der Volksmasse, oder des größern Theiles des Volkes, welche sich überall, unter jeder Form der Verfassung geltend macht, weil das Volk überall Nahrung und, da diese durch seine eigne Arbeit gewonnen werden muß, einen angemessenen und vollen Lohn verlangt, womit Gewerbsfreiheit, Möglichkeit des Erwerbens und Rechtssicherheit, welche ohne Rechtsgleichheit gar nicht gedacht werden kann, zusammenhängen; 3) die Macht der höhern geistigen oder moralischen Interessen, welche in sittlicher Erhebung der Völker, Gerechtigkeit, Wahrheit und uneigennützigem Wirken zum Wohl des Ganzen bestehen, und sie als die höchste Aufgabe des Staatslebens betrachten lassen.
Conversations-Lexikon der Gegenwart, Bd. 1, Leipzig 1838, S. 913-916, hier S. 913.

1844
Die Demokratie, das ist heutzutage der Kommunismus. Eine andre Demokratie kann nur noch in den Köpfen theoretischer Visionäre existiren, die sich nicht um die wirtschaftlichen Ereignisse kümmern, bei denen nicht die Menschen und die Umstände die Prinzipien, sondern die Prinzipien sich selbst entwickeln. Die Demokratie ist proletarisches Prinzip, Prinzip der Massen geworden.
Friedrich Engels: Das Fest der Nationen in London, in: Rheinische Jahrbücher zur gesellschaftlichen Reform 2 (1846), S. 1-19, hier S. 3.

1852
Demokratie. […] Begriff der absoluten Gleichberechtigung aller Staatsbürger oder gar aller Menschen als solcher hinsichtlich der Theilnahme an den politischen Rechten […] Wir finden bei den germanischen Völkerschaften, den Hauptträgern dieser modernen Geschichte, eine fast vollständige Gleichheit aller freien Männer (blos mit Ausnahme der Sklaven) und eine wahrhafte Selbstregirung dieser Freien in den einzelnen Stämmen und Völkerschaften […] demokratische Gleichheit […]
Das aristokratische Princip des Feudalstaats, das Princip der Ausschließung, der Bevorrechtung, der Unterdrückung der Mehrheit durch die Minderheit, war dem demokratischen Princip, dem Princip der Gleichberechtigung aller Volksclassen, aller Berufsarten, aller Beschäftigungsweisen, erlegen. […]
auf diesem Wege [der »vollständigen Gleichstellung« hat] nicht blos die politische, sondern auch die sociale Grundlage des bisherigen Gesellschaftszustandes eine Umwandelung erfahren, daß die besitzende Classe (die Bourgeoisie) nicht blos der politischen Vorrechte, die sie bisher genossen, sondern auch der materillen Basis dieses Vorrechts, ihres Besitzes, zu Gunsten der besitzlosen Classe (des eigentlichen Volkes) ganz oder zum Theil entkleidet, daß also nicht nur eine vollständige politische, sondern auch eine materielle und sociale Gleichheit aller Classen der Gesellschaft hergestellt werden müsse […]
Wenn es […] anderweite Gründe geben mag, welche eine größere Ausgleichung der allzu schroffen Unterschiede des Besitzes, eine größere materielle und sociale Gleichstellung der untern mit der Mittelclasse wünschenswerth erscheinen lassen (s. Socialismus), so folgt doch eine solche Consequenz keineswegs nothwendig aus dem Begriffe der demokratischen Gleichheit, da diesem Begriffe schon genug geschieht durch die Beseitigung jeder die Einheit und Gleichartigkeit des Volkes aufhebenden ausschließenden Bevorrechtung und Herrschaft eines einzelnen Standes als solchen, durch die Herstellung vollkommener persönlicher und bürgerlicher Freiheit, sowie vollkommener Gleichheit Aller vor dem Gesetze
Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für gebildete Stände, 10. Aufl., Bd. 4, Leipzig 1852, S. 685-690, hier S. 685; 686; 687; 688.

1899
Die Sozialdemokratie will nicht diese Gesellschaft auflösen und ihre Mitglieder allesammt proletarisiren, sie arbeitet vielmehr unablässig daran, den Arbeiter aus der sozialen Stellung eines Proletariers zu der eines Bürgers zu erheben und so das Bürgerthum oder Bürgersein zu verallgemeinern. Sie will nicht an die Stelle der bürgerlichen eine proletarische Gesellschaft, sondern sie will an die Stelle der kapitalistischen eine sozialistische Gesellschaftsordnung setzen. […]
Was […] den Liberalismus als weltgeschichtliche Bewegung anbetrifft, so ist der Sozialismus nicht nur der Zeitfolge, sondern auch dem geistigen Gehalt nach sein legitimer Erbe […]. Die Sicherung der staatsbürgerlichen Freiheit hat ihr [d.i. der Sozialdemokratie] stets höher gestanden, als die Erfüllung irgendeines wirthschaftlichen Postulats. Die Ausbildung und Sicherung der freien Persönlichkeit ist der Zweck aller sozialistischen Maßregeln, auch derjenigen, die äußerlich sich als Zwangsmaßregeln darstellen. Stets wird ihre genauere Untersuchung zeigen, daß es sich dabei um einen Zwang handelt, der die Summe von Freiheit in der Gesellschaft erhöhen, der mehr und einem weiteren Kreise Freiheit geben soll, als er nimmt. […]
es [gibt] keinen liberalen Gedanken, der nicht auch zum Ideengehalt des Sozialismus gehörte. Selbst das Prinzip der wirthschaftlichen Selbstverantwortlichkeit, das anscheinend so ganz und gar manchesterlich ist, kann meines Erachtens vom Sozialismus weder theoretisch negirt, noch unter irgend denkbaren Umständen außer Wirksamkeit gelegt werden. Ohne Verantwortlichkeit keine Freiheit
Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S. 128; 129; 130.

1911
Nous appelons démocratiques toutes les doctrines qui placent l’origine du pouvoir politique dans la volonté collective de la société soumise à ce pouvoir et qui enseignent que le pouvoir politique est légitime, parce que et seulement parce qu’il est institué par la collectivité qu’il régit.
[…]
nous ne pouv[]ons [pas] accepter la doctrine, encore dominante, de l’Etat personne collective souveraine. Elle repose en effet sur des concepts métaphysiques sans valeur: d’une part la prétendue personnalité de la collectivité, qui aurait une conscience et une volonté, et d’autre part la souveraineté, c’est-à-dire la puissance de formuler des ordres inconditionnés appartenant à cette volonté collective. Formulée dans ses principes par nos déclarations des droits et nos constitutions de l’époque révolutionnaire et encore par la constitution de 1848, elle est encore, d’après ces textes, la base de notre droit public français. Mais les faits sont plus forts que les textes et le droit se trouve dans la réalité sociale et non dans les formules de lois quelques solennelles qu’elles soient. Le moment est venu de tenter la construction juridique de l’Etat, en utilisant uniquement les matériaux fournis par la réalité sociale et en écartant tous les concepts d’ordre métaphysique.
Léon Duguit: Traité de droit constitutionnel, Bd. 1. Théorie générale de l’état, Paris 1911, S. 28; 67.

1924
Democracy involves, not the elimination of differences, but the perfection and conservation of differences. It aims, through Union, not at uniformity, but at variety, at a one out of many, as the dollars say in Latin, and a many in one. It involves a give and take between radically different types, and a mutual respect and mutual coöperation based on mutual understanding.
Horace M. Kallen: Culture and Democracy in the United States, New York 1924, S. 61.

1987
Postmodernes Denken entspricht […] einer Haltung, für die Demokratie verbindlich wurde. Die Postmoderne bedroht nicht […] die demokratische Tradition der Moderne, sondern entwickelt eine grunddemokratische Vision. Denn in ihr wird Pluralität grundsätzlich anerkannt und freigegeben. Und erst unter der Bedingung solch grundsätzlicher Pluralität macht Demokratie eigentlich Sinn. Denn eine einheitliche Gesellschaft wäre fürwahr mit anderen ‒ monarchischen oder oligarchischen ‒ Staatsformen besser bedient. Zur Demokratie hingegen gehört die Präsumption, daß in der Gesellschaft unterschiedliche, gleichermaßen legitime, aber im Letzten nicht vereinbare Ansprüche existieren. Daher ist die Postmoderne grunddemokratischen Geistes, denn sie ist hartnäckiger und unverlierbarer als die Moderne von diesem Bewußtsein der Heterogenität geprägt. […] Was an der Postmoderne das Prekäre zu sein scheint und für viele beunruhigend ist, daß nämlich zwischen den heterogenen Ansprüchen keine rechtlich begründete Entscheidung mehr getroffen werden kann, dieses irritierende Moment eines solcherart radikalen Pluralismus ist in der Demokratie ‒ und nur in ihr ‒ prinzipiell akzeptiert und von vornherein in die Konstruktion aufgenommen. Ja man könnte geradezu sagen, daß die Demokratie auf diesen Konfliktfall hin entworfen ist. Die Demokratie ist eine Organisationsform nicht für den Konsens, sondern für den Dissens von Ansprüchen und Rechten. Und ihre konsensuale Basis ‒ die sie natürlich gleichwohl hat und braucht (sie ist in den Grundrechten kodifiziert) ‒ bezieht sich genau auf dieses Grundrecht der Differenz und Pluralität und bemüht sich zu sichern, daß diesem Grundrecht nicht namens irgendeiner Einheit Einhalt geboten wird und Unrechtsfolgen in den Weg treten. Die Postmoderne nimmt dieses konstitutive Prinzip der modernen Demokratie ernst. Ja man kann sagen, daß sie erst dieses innerste Prinzip der Demokratie voll nützt und daß so erst in ihr der eigentliche Nerv der Demokratie zum Tragen kommt.
Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, S. 182f.

1992
Spinoza represents the antagonistic element, by refusing the contract, and therefore by reproposing the theme of democracy as multitude in movement. It is here that contractualism invents its proposal of foundation of the modern State; and the contradiction between Locke and Hobbes is minimal if compared to that which pits both against Harrington’s and Spinoza’s democratic thought. In fact, for these two, democracy is the only absolute government because it gathers into unity the freedom of all and sees all subjects’ passion in a light of equality. On the contrary, contractualism is convinced that man’s socialization and his transformation into citizen can only be understood through a mechanism of closures and obstacles.
Antonio Negri: Insurgencies. Constituent Power and the Modern State (1992), übers. von Maurizia Boscagli, Minneapolis 1999, S. 137.

2000
Spinoza de
nes democracy as the absolute form of government because in democracy all of society, the entire multitude, rules; in fact, democracy is the only form of government in which the absolute can be realized.
Michael Hardt und Antonio Negri: Empire, Cambridge, Mass. 2000, S. 185.

2000
For an Agonistic Model of Democracy […]
A well-functioning democracy calls for a vibrant clash of democratic political positions. If this is missing there is the danger that this democratic confrontation will be replaced by a confrontation among other forms of collective identification, as is the case with identity politics. Too much emphasis on consensus and the refusal of confrontation lead to apathy and disaffection with political participation. Worse still, the result can be the crystallization of collective passions around issues which cannot be managed by the democratic process and an explosion of antagonisms that can tear up the very basis of civility. It is for that reason that the ideal of a pluralist democracy cannot be to reach a rational consensus in the public sphere. Such a consensus cannot exist. We have to accept that every consensus exists as a temporary result of a provisional hegemony, as a stabilization of power, and that it always entails some form of exclusion. The ideas that power could be dissolved through a rational debate and that legitimacy could be based on pure rationality are illusions which can endanger democratic institutions.
Chantal Mouffe: The Democratic Paradox, London 2000, S. 104.

2000
Democracy
means that all citizens have the right—and the responsibility—to participate fully in society. We all have the right to be educated for citizenship and the ability to influence the development of the public policy that shapes our lives. We all share equally in the right to seek redress of our grievances and to participate in that “eternal vigilance” that Patrick Henry said was the price of liberty. These are the inalienable rights spelled out in our Constitution and Bill of Rights. Democracy means that no group has the first claim on them. All citizens—whether people of color or women or people with handicaps or gays or lesbians—are guaranteed these rights by the very principles on which our life together is founded.
Elsie Y. Cross: Managing Diversity. The Courage to Lead, Westport, Conn. 2000, S. 14f.

2004
Von grundsätzlichem Gewicht sind […] die Aussagen zur pluralistischen Demokratie, welche gerade als eine „Staatsform der Vielfalt“ erscheint und auch materiell-rechtlich zu einem allgemeinen favor varietatis führt.
Anna Leisner-Egensperger: Vielfalt. Ein Begriff des öffentlichen Rechts, Berlin 2004, S. 43.

2013
es zeichnet dieses fundamentale, radikale Denken der Demokratie [Spinozas] aus, dass es den Grund der Demokratie gerade nicht in der Einheit oder Identität eines Volkes findet, sondern in einem offeneren Zusammenhang des Handelns. Es ist dieser Zug, der Spinozas Konzeption der multitudo als demokratischer Instanz – allerdings erst nach Aufhebung der expliziten Ausschlüsse – auch für heutige Fragestellungen interessant macht. Die Menge hat keine substantielle Identität, sondern ist eine Figur des Handelns, pure Handlungsmacht. Der demokratische Grund der Politik ist, mit anderen Worten, selbst ständig in Bewegung.
Martin Saar: Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, Frankfurt am Main 2013, S. 350.

2014
Notwendig aporetisch bleibt die Idee der Demokratie […] insofern, als die Verbürgung von sozialer Pluralität und Heterogenität einerseits an die von der modernen Gesellschaft realisierte (Chancen-)Gleichheit und andererseits an ein signifikantes Quantum der Ungleichheit geknüpft bleibt (vgl. Blau 1977 [Inequality and Heterogeneity, New York 1977]) ‒ sei es auf der horizontalen Ebene in Form der Arbeitsteilung oder der Individualisierung sowie im Hinblick auf die vertikale Dimension anhand der Distinktion zwischen Regierenden und Regierten. […]
Der Pluralismus der Werte, Interessen und Funktionen, der als soziologische Grundlage und Katalysator der modernen Demokratie zu gelten hat, produziert gleichzeitig ein (politisch, nicht metaphysisch) bislang ungeahntes Erfordernis wie Potential nach Einheit stiftenden Ideen und Normen, nach einer Art Grundkonsens, auf den die demokratische Praxis stets angewiesen ist und bleibt.
Oliver Hidalgo: Die Antinomien der Demokratie, Frankfurt am Main 2014, S. 209; 224.

2020
dass Repräsentation ohne eine Prise Empathie für andere gar nicht möglich ist; dass die Fähigkeit, die Belange anderer empathisch zu den eigenen zu machen, die Signatur von Solidarität ist – das hat in diesem [identitätspolitischen] Denkmuster keinen Ort. Empathie ist ihm vornehmlich eine Chiffre für Übergriffigkeit. Deshalb die Gleichsetzung von Betroffenheit und Kompetenz. Jede benachteiligte Gruppe soll ihre Sprecherquote möglichst ganz aus sich selbst rekrutieren. Eine bevormundungsfreie Sprechervielfalt, eine unbegrenzte Diversifizierung der Gleichstellung wird proklamiert, aber durch eine xenophobe Mentalität, nach der Devise: Vertrauen können wir nur Leuten aus unserm Stall. Eine neue Form von Clan-Denken zieht damit ins Parlament ein – auf dem Niveau internetgestützter, hochmobiler Gruppenbildungsprozesse. Zur Erinnerung: Die historische Vorform des demokratischen Parlaments war die Ständeversammlung aus Klerus, Adel und, mehr geduldet als respektiert, dem dritten Stand der Bürger. […] Das »linke« Projekt der paritätischen Besetzung des Parlaments ist »rechter« als beabsichtigt. Es befördert auf die softe Tour das Vordringen von Wirtschaftszwängen in die politische Sphäre. Der Lobbyismus hört dadurch, dass er durch Paragrafen und Proporzberechnungen verrechtlicht wird, ja nicht auf, ein Abkömmling des Wirtschaftslobbyismus zu sein. Absehbar, dass dieses Paritätskonzept weniger die Basisdemokratie vorantreiben als zu einer Lobbydemokratie führen wird, in der das Parlament wie in vorbürgerlicher Zeit wieder nach Proporz zusammengesetzt ist; freilich nicht als Vertretung von Ständen, sondern von vielen mobilen Gruppen, die allesamt ihre eigenen »authentischen« Sprecher abordnen. Ein hochbewegliches Hightech-Parlament zeichnet sich ab, das strukturell gleichwohl eher einer archaischen Stammesversammlung als dem aktuellen deutschen Bundestag ähnelt. Dabei wäre es ausgesprochen wünschenswert, wenn mehr Frauen, People of Color, Muslime, Juden, Behinderte im Parlament säßen. Doch wenn die Erhöhung ihrer Zahl durch Proporzgesetzgebung verordnet wird, verfängt sich die Demokratie in einer selbstgestellten Falle und wird ihren Gegnern zur leichten Beute.
Christoph Türcke: Lobbydemokratie, in: Merkur 858 (Nov. 2020), S. 77-84, hier S. 83f.

 

Literatur

Ossip K. Flechtheim: Demokratie, in: Staat und Politik. Das Fischer-Lexikon, Frankfurt am Main 1957, S. 55-60.

Ernst Fraenkel, Karl Dietrich Bracher und Peter Hübner: Demokratie, in: Staat und Politik. Das Fischer-Lexikon, Frankfurt am Main 1966, S. 72-79.

G. Bien/H. Maier: Demokratie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel 1972, Sp. 50-55.

Christian Meier/Hans Leo Reimann/Reinhart Koselleck/Hans Maier/Werner Conze: Demokratie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 821-899.

Antonio Negri: Insurgencies. Constituent Power and the Modern State, Minneapolis 1999.

Michael Hardt und Antonio Negri: Multitude. War and Democracy in the Age of Empire, dt. Multitude, Frankfurt am Main 2004.

Paolo Virno: Grammatik der Multitude, Berlin 2005.

Hubertus Buchstein: Demokratie, in: Gerhard Göhler, Mattias Iser und Ina Kerner (Hg.): Politische Theorie. 25 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden 2011, S. 46-62.

Martin Saar: Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, Frankfurt am Main 2013.

Oliver Hidalgo: Die Antinomien der Demokratie, Frankfurt am Main 2014.