15. Jh.
Multitudo hd, vil-hayt […]; filheyt
Laurentius Diefenbach: Glossarium latino-germanicum mediae et infimae aetatis e codicibus manuscriptis et libris impressis, Frankfurt am Main 1857, S. 371a.

1781
Die logische Functionen der Urtheile überhaupt: Einheit und Vielheit, Beiahung und Verneinung, Subiect und Prädicat können, ohne einen Cirkel zu begehen, nicht definirt werden
Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft, Riga 1781, S. 245.

1783
Gott, der Schöpfer und Erhalter der Welt, war zugleich der König und Verweser dieser Nation, und er ist ein Einiges Wesen, das so wenig im Politischen, als im Metaphysischen, die mindeste Trennung, oder Vielheit zuläßt.
Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum, Berlin 1783, S. 117.

1783
Brüder! ist es euch um wahre Gottseligkeit zu thun; so lasset uns keine Uebereinstimmung lügen, wo Mannigfaltigkeit offenbar Plan und Endzweck der Vorsehung ist. Keiner von uns denkt und empfindet vollkommen so, wie sein Nebenmensch; warum wollen wir denn einander durch trügliche Worte hintergehen?
Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum, Berlin 1783, S. 138.

1790
Eine Idee soll der Möglichkeit des Naturproducts zum Grunde liegen. Weil diese aber eine absolute Einheit der Vorstellung ist, statt dessen die Materie eine Vielheit der Dinge ist, die für sich keine bestimmte Einheit der Zusammensetzung an die Hand geben kann, so muß, wenn jene Einheit der Idee, sogar als Bestimmungsgrund, priori eines Naturgesetzes der Caussalität einer solchen Form des Zusammengesetzten dienen soll, der Zweck der Natur auf Alles, was in ihrem Producte liegt, erstreckt werden
Immanuel Kant: Critik der Urtheilskraft, Berlin 1790, S. 293.

1811
Die Vielheit, o. Mz. der Zustand, da eine große Mehrheit von einem Dinge vorhanden ist, die Menge, welches jedoch noch mehr, eine noch größere Zahl bezeichnet. Auch die Viele. „Die Vielheit kömmt allem zu, was nicht wenig ist es mag gezählt werden oder nicht; Menge nur dem Ungezählten. […]“ Eberhard.
Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 4, Braunschweig 1811, S. 417.

1812
Die Vielheit ist […] nicht ein Andersseyn, und eine dem Eins vollkommen äussere Bestimmung. Das Eins, indem es sich selbst repellirt, bleibt Beziehung auf sich, wird nicht Beziehen auf ein Anderes. Daß die Eins andere gegeneinander, daß sie in die Bestimmtheit der Vielheit zusammengefaßt sind, geht also die Eins nichts an […], sie ist ihm schlechthin äusserlich
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik, Bd. 1, Nürnberg 1812, S. 106f.

1833
Die Familie tritt auf natürliche Weise, und wesentlich durch das Princip der Persönlichkeit in eine Vielheit von Familien auseinander, welche sich überhaupt als selbstständige konkrete Personen und daher äußerlich zu einander verhalten. […]
Das Princip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Princip der Subjektivität sich zum selbstständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen, und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten. Zusatz: Die Idee des Staates in neuer Zeit hat die Eigenthümlichkeit, daß der Staat die Verwirklichung der Freiheit nicht nach subjektivem Belieben, sondern nach dem Begriffe des Willens, d.h. nach seiner Allgemeinheit und Göttlichkeit ist. […] Das Wesen des neuen Staates ist, daß das Allgemeine verbunden sey mit der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohlergehen der Individuen, daß also das Interesse der Familie und bürgerlichen Gesellschaft sich zum Staate zusammennehmen muß, daß aber die Allgemeinheit des Zwecks nicht ohne das eigene Wissen und Wollen der Besonderheit, die ihr Recht behalten muß, fortschreiten kann. Das Allgemeine muß also bethätigt seyn, aber die Subjektivität auf der anderen Seite ganz und lebendig entwickelt werden. Nur dadurch, daß beide Momente in ihrer Stärke bestehen, ist der Staat als ein gegliederter und wahrhaft organisirter anzusehen.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1833, S. 245 (§ 181); 322 (§ 260) (noch nicht in der 1. Aufl. 1821).

1873
der Streit der Vielheit [kann] doch in sich Gesetz und Recht tragen
Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen [1873], in: KSA Bd. I, S. 831.

1881
Konstituirendes Princip des Weltganzen [im Mittelalter] […] ist vor Allem das Princip der Einheit. Denn Gott als das schlechthin einheitliche Sein ist vor und über aller Vielheit der Welt, ist Quelle und Ziel alles besonderen Seins; die göttliche Vernunft durchdringt als Weltgesetz (lex aeterna) alle vorhandene Mannigfaltigkeit; der göttliche Wille bethätigt sich fort und fort als einheitliche Weltregierung, welche alles Viele nach seinem Einen Ziele hin bewegt. […] Ueberall ist das Eine vor dem Vielen; die Vielheit hat in der Einheit ihre Quelle (omnis multitudo derivatur ab uno), und kehrt zur Einheit zurück (ad unum reducitur). Mithin beruht alle Ordnung in der Unterordnung der Vielheit unter die Einheit (ordinatio ad unum), und überall kann ein einer Vielheit gemeinsamer Zweck nur erreicht werden, wenn das Eine über das viele herrscht und es auf das Ziel hin bewegt. […] | Einheit ist die Wurzel alles und somit auch des gesellschaftlichen Seins.
Otto von Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3. Die Staats- und Korporationslehre des Alterthums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland, Berlin 1881, S. 515f.

1882
Grösster Nutzen des Polytheismus. ‒ Dass der Einzelne sich sein eigenes Ideal aufstelle und aus ihm sein Gesetz, seine Freuden und seine Rechte ableite ‒ das galt wohl bisher als die ungeheuerlichste aller menschlichen Verirrungen und als die Abgötterei an sich; in der That haben die Wenigen, die diess wagten, immer vor sich selber eine Apologie nöthig gehabt, und diese lautete gewöhnlich: „nicht ich! nicht ich! sondern ein Gott durch mich!“ Die wundervolle Kunst und Kraft, Götter zu schaffen ‒ der Polytheismus ‒ war es, in der dieser Trieb sich entladen durfte, in der er sich reinigte, vervollkommnete, veredelte: denn ursprünglich war es ein gemeiner und unansehnlicher Trieb, verwandt dem Eigensinn, dem Ungehorsame und dem Neide. Diesem Triebe zum eigenen Ideale feind sein: das war ehemals das Gesetz jeder Sittlichkeit. Da gab es nur Eine Norm: „der Mensch“ ‒ und jedes Volk glaubte diese Eine und letzte Norm zu haben. Aber über sich und ausser sich, in einer fernen Ueberwelt, durfte man eine Mehrzahl von Normen sehen: der eine Gott war nicht die Leugnung oder Lästerung des anderen Gottes! Hier erlaubte man sich zuerst Individuen, hier ehrte man zuerst das Recht von Individuen. Die Erfindung von Göttern, Heroen und Uebermenschen aller Art, sowie von Neben- und Untermenschen, von Zwergen, Feen, Centauren, Satyrn, Dämonen und Teufeln, war die unschätzbare Vorübung zur Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlichkeit des Einzelnen: die Freiheit, welche man dem Gotte gegen die anderen Götter gewährte, gab man zuletzt sich selber gegen Gesetze und Sitten und Nachbarn. Der Monotheismus dagegen, diese starre Consequenz der Lehre von Einem Normalmenschen ‒ also der Glaube an einen Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter giebt ‒ war vielleicht die grösste Gefahr der bisherigen Menschheit: da drohte ihr jener vorzeitige Stillstand, welchen, soweit wir sehen können, die meisten anderen Thiergattungen schon längst erreicht haben; als welche alle an Ein Normalthier und Ideal in ihrer Gattung glauben und die Sittlichkeit der Sitte sich endgültig in Fleisch und Blut übersetzt haben. Im Polytheismus lag die Freigeisterei und Vielgeisterei des Menschen vorgebildet: die Kraft, sich neue und eigene Augen zu schaffen und immer wieder neue und noch eigenere: sodass es für den Menschen allein unter allen Thieren keine ewigen Horizonte und Perspectiven giebt.
Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (1882), KSA Bd. 3, S. 490f. (§143).

1923
Es gehört zu den tiefsten Symptomen unseres Daseins, daß wir der euklidischen Geometrie nicht etwa eine, sondern eine Mehrzahl von andern gegenüberstellen, die für uns gleich wahr, gleich widerspruchslos sind. […] Nicht in der Realität der einen oder andern, sondern in der Vielheit gleichmäßig möglicher Geometrien liegt das spezifisch abendländische Symbol. Erst durch die Gruppe von Raumstrukturen, in deren Fülle die antike Fassung einen bloßen Grenzfall bildet, wird der Rest von Körperhaftem im reinen Raumgefühl aufgelöst. […]
Wäre alles Leben ein gleichförmiger Daseinsstrom, so würden wir die Worte Volk, Staat, Krieg, Politik, Verfassung nicht kennen. Aber das ewige und gewaltige Verschiedensein des Lebens, das durch die Gestaltungskraft der Kulturen bis aufs Äußerste gesteigert wird, ist eine Tatsache, die mit all ihren Folgen geschichtlich schlechthin gegeben ist. […]
Daseinsströme im Bereich einer hohen Kultur, in und zwischen denen allein es große Politik gibt, sind nur in Mehrzahl möglich. Ein Volk ist wirklich nur in bezug auf andere Völker.
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1923, Bd. 1, S. 228f.; Bd. 2, S. 446; 545 [noch nicht in den ersten Auflagen].

1976
Das Viele (mulitple) muß man machen: nicht dadurch, daß man fortwährend übergeordnete Dimensionen hinzufügt, im Gegenteil ganz schlicht und einfach in allen Dimensionen, über die man verfügt, jedesmal n‒1 (Das Eine ist nur dann ein Teil der Vielheit, wenn es von ihr abgezogen wird). Das Einzelne abziehen, wenn eine Vielheit [multiplicité] konstituiert wird; n‒1 schreiben. […]
Prinzip der Vielheit: nur wenn das Viele als Substantiv, als Vielheit behandelt wird, hat es keine Beziehung mehr zum Einen als Subjekt und Objekt, als Natur und Geist, als Bild und Welt. Vielheiten sind rhizomatisch und entlarven die baumartigen Pseudo-Vielheiten. Keine Einheit, die im Objekt als Stütze fungiert oder sich im Subjekt teilt. Nicht einmal eine Einheit, die im Objekt verkümmert, um im Subjekt „wiederzukehren“. Eine Vielheit hat weder Subjekt noch Objekt; sie wird ausschließlich durch Determinierungen, Größen und Dimensionen definiert, die nicht wachsen, ohne daß sie sich dabei gleichzeitig verändert (die Kombinationsgesetze wachsen also mit der Vielheit). Als Rhizom oder Vielheit verweisen die Fäden der Marionette nicht auf den angeblich einheitlichen Willen eines Künstlers oder Marionettenspielers, sondern auf die Vielheit seiner Nervenfasern.
Gilles Deleuze und Félix Guattari: Rhizom (1976), Berlin 1977, S. 11; 13.

1978
In der ganzen Geschichte der politischen Theorie des Abendlandes ragt der einzige Aristoteles namentlich dadurch hervor, daß er den Staat auf die Vielheit (der gleichen Bürger) gegründet oder daß er dem Staat keine eigene Existenz außer ihr zugeschrieben hat, sei es eine gute oder böse, heilsame oder verderblich, eine heilige oder dämonische, technische oder ästhetische oder metaphysische. Denn alle diese Varianten des Staatsbegriffs – und das ist der Modellbegriff des Politischen überhaupt – kommen darin überein, daß sie den Staat, logisch gesprochen, als Einheit auffassen oder konstruieren. Einzig die ›bürgerliche‹ Politik des Aristoteles – und all derer, die nachmals in seine Spur zurückgekehrt sind –, einzig diese ›Politologie‹ im strengen Sinne des Wortes hat die reale Vielheit der Bürger zum Gegenstand gemacht, derer, die den Staat bilden, indem sie miteinander und widereinander handeln, Einrichtungen schaffen und verwalten und sich nach Verfahrensregeln einigen. Ihre Vielheit ist so fundamental wie ihre Gleichheit. Der Staat ist die Vielheit der Gleichen und die Gleichheit der Vielen.
Dolf Sternberger: Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt am Main 1978, S. 109f.

 

Literatur

Das Allgemeine von Gott, dem Menschen und der Welt in kurtzgefaßten Tabellen also vorgestellet, daß die Vielheit, Ordnung und Verschiedenheit derer vornehmsten und vorkommenden Sachen beysammen können übersehen werden, Berlin 1753.

Carl Pontus Wikner: Einheit und Vielheit. Eine philosophische Untersuchung. Aus dem Schwedischen, Leipzig 1875.

Carl Friedrich von Weizsäcker: Einheit und Vielheit, Göttingen 1973.

Odo Marquart, Einheit und Vielheit, in: ders. (Hg.): Einheit und Vielheit, Hamburg 1990, S. 1-10.

Alois Halbmayr: Lob der Vielheit. Zur Kritik Odo Marquards am Monotheismus, Innsbruck 2000.

Barbara Boisits: Einheit und Vielheit. Organologische Denkmodelle in der Moderne, Wien 2000.

Stephan Meier-Oeser: Vielheit I, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001, Sp. 1041-1050.

Johannes Brachtendorf und Stephan Herzberg (Hg.): Einheit und Vielheit als metaphysisches Problem, Tübingen 2011.

Thomas Kirchhoff und Kristian Köchy (Hg.): Wünschenswerte Vielheit. Diversität als Kategorie, Befund und Norm, Freiburg i. Br. 2016.